Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen beruhen auf rechtlichen Begründungen und sie knüpfen an alltägliche Erfahrungen an. Persönliche Erfahrungen in Bildungseinrichtungen sind davon geprägt, ob die Beziehungen zur Lehrkraft oder
zur Erzieherin als förderlich oder als verletzend erlebt werden. Diese Einsicht wird seit Jahrhunderten in autobiografischen Texten erinnert und in literarischen und bildlichen Kunstwerken zum Ausdruck gebracht (Scheibe 1967; Rutschky 1983; Schiffer / Winkeler 1998). Sie ist nach wie vor auch allgegenwärtiger Gegenstand familiärer und fachlicher Gespräche. Seit Langem propagieren Einzelpersonen, Bildungseinrichtungen, Träger und Verbände die Orientierung am Leitbild einer Kultur der Anerkennung (z. B. Singer 1998; Miller 2011; Hafeneger 2013; Ittel / Raufelder 2008; Herrmann 2001).

In der historischen Entwicklung führten die schmerzlichen und zerstörerischen Erfahrungen von Kindern, zu denen immer auch seelische Verletzungen gehörten, schließlich zur Entstehung der Kinderrechtskonvention (Kerber-Ganse 2009), auch spiegeln sie sich in rechtlichen Erkenntnissen und Deklarationen wider (vgl. z. B. Kinderkommission 2016). Kinder sind Träger von Rechten und haben als solche Anspruch auf würdevolle und achtsame Behandlung. Juristisch stellen die internationale Kinderrechtskonvention sowie vielseitige nationale und föderale gesetzliche  Vorgaben klar, dass seelische Verletzungen unzulässig ind. In der Kinderrechtskonvention heißt es (Vereinte Nationen 1989, Artikel 3 (1)): „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder   Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Nationale Gesetze in demokratischen Gesellschaften untersagen in unterschiedlichen Ausprägungen Gewalt gegen Kinder. So heißt es zum Beispiel in der Neufassung des Gesetzes zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung (BGB 2002, § 1631 (2)), das im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“

Die Reckahner Reflexionen wenden sich im Einklang mit diesen juristischen Vorgaben gegen alle Formen der Gewalt. Ihr besonderer Schwerpunkt ist die Stärkung von persönlicher Anerkennung und die Verminderung von seelischen Verletzungen, die sich in tagtäglichen Interaktionen vor allem durch Worte und Gesten ereignen, weil diese wohl verbreitetste Gewaltform nach wie vor wenig beachtet wird. Körperliche und sexualisierte Gewalt in Bildungsinstitutionen erlangten öffentliche Aufmerksamkeit, die zu zielgerichteten Gegenmaßnahmen und eindeutigen Verboten sowie zu strafrechtlicher Ahndung führte (KMK 2013; Scheibe 1967). Demgegenüber sind
Formen der seelischen Missachtung in Form alltäglicher sprachlicher Gewalt (Herrmann u. a. 2007; Schubarth / Ulbricht 2012; Schubarth / Winter 2012) in pädagogischen Einrichtungen bisher kaum Gegenstand von Debatten in der Öffentlichkeit geworden. Obwohl die Reckahner Reflexionen auf die Ebene alltäglicher pädagogischer Beziehungen fokussiert sind, können sie zugleich auch Beiträge zur Prävention vor anderen Gewaltformen (Kindler 2014) sowie zur Stärkung des Rechts auf Bildung leisten. Indem sie die Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen betonen, richten sie sich auch gegen körperliche, sexualisierte, miterlebte und vernachlässigende Gewalt und unterstützen die darauf bezogenen Initiativen und Maßnahmen. Indem Pädagoginnen und Pädagogen sich wertschätzend den Lernenden zuwenden, nehmen sie auch ihre Gefühle, ihre Denkweisen und ihre kognitiven Unterstützungsbedürfnisse wahr, um geeignete pädagogische und didaktische Angebote zu gestalten und Entwicklungs- und Lernprozesse zu fördern. Indem Kinder und Jugendliche darauf vertrauen können, dass sie anerkennend behandelt werden, können sie sich zuversichtlich auf das Lernen konzentrieren und ihr Recht auf Bildung wahrnehmen.

Bildung über, durch und für Menschenrechte

Die Reckahner Reflexionen sind ein Beitrag zur Menschenrechtsbildung. Drei zusammenhängende Zugänge werden zu ihrer Realisierung für notwendig erachtet: Bildung über Menschenrechte betrifft vor allem die
Wissensvermittlung. Bildung durch die Menschenrechte betrifft die menschenrechtliche Gestaltung des pädagogischen Alltags und der Lernumgebung. Bildung für die Menschenrechte regt die Lernenden dazu an, selbst im Sinne der Menschenrechte aktiv zu sein (Vereinte Nationen 2011; Niendorf / Reitz 2016; Rudolf 2014; Reitz / Rudolf 2014, S. 18; Mahler/ Mihr 2004; Kirchschläger / Kirchschläger 2013; Carle/ Kaiser 1998).

Menschenrechtliche Verbesserungen auf der Beziehungsebene sind als Bildung durch die Menschenrechte einzuordnen, denn die Lehrer-Schüler-Beziehung beziehungsweise die Erzieher-Kind-Beziehung oder die Erzieher-Jugendlichen-Beziehung bildet einen zentralen Aspekt der Lernumgebungen. Die Reckahner Reflexionen machen es sich zur Aufgabe, auf die große Bedeutung des Beziehungsaspekts für die Menschenrechtsbildung, für die Demokratie als Lebensform und für das Recht auf Bildung hinzuweisen. Denn Menschenrechtsbildung,
Demokratieerziehung und die Einlösung des Rechts auf Bildung können nicht gelingen, wenn die Lernenden die Erfahrung machen, dass sie entwürdigend behandelt werden (Edelstein / Frank 2009; Edelstein / Krappman / Student 2014; Kittel 2008). „Menschenrechtserziehung kann sich nicht auf die Vermittlung von Wissen beschränken. Sie muss die emotionale und handelnde Komponente einbeziehen. Schülerinnen und Schüler müssen die Achtung des Mitmenschen im täglichen Umgang in der Schule erleben und üben.“ (KMK 1980/2000, S. 6)

Die Einsicht, dass über menschenrechtliche Prinzipien nicht nur informiert werden soll, sondern dass sie in alltäglichen Interaktionen gelebt werden müssen, wird von der Kultusministerkonferenz der deutschen Bundesländer vermittelt. In ihrer Empfehlung zur Förderung der
Menschenrechtserziehung in der Schule weist die KMK schon seit 1980 darauf hin, dass die Lernenden im Schulleben sowohl erfahren sollen, dass sie selbst geachtet werden, als auch, dass sie sich darin üben sollen, andere zu achten. Für alle Felder, in denen es um die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und um ihre Bildung geht, wurden inzwischen Konzeptionen einer kinderrechtlich fundierten Pädagogik mit Schutz-, Förder- und Beteiligungsaufgaben ausgearbeitet (institutionenübergreifend vgl. Maywald 2012; für den Kindergarten vgl. zum Beispiel Maywald 2016; Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband 2016; Günnewig / Reitz 2016; für die Schule vgl. z. B. Krappmann
2015; Krappmann / Petry 2016; Niendorf / Reitz 2016; für Soziale Arbeit und Sozialpädagogik vgl. z. B. Staub- Bernasconi 2008, 2016; Braun u. a. 2005; Bimschas / Schröder 2003; Friebertshäuser 2007). Einige rechtliche Vorgaben dienen auch dazu, die Einhaltung
von Menschenrechten zu gewährleisten. Seit 2012 bestimmt in Deutschland das Bundeskinderschutzgesetz (§ 45 SGB VIII), dass Beschwerdeverfahren und institutionelle Beteiligungsformen Voraussetzung für die Erteilung einer Betriebserlaubnis von Jugendhilfeeinrichtungen, zu denen auch Kindertageseinrichtungen gehören, sind (§ 45 SGB VIII; Winklhofer 2014; Urban-Stahl / Jann 2013;
Jann 2014). Auch Schülerinnen und Schüler beziehungsweise ihre Eltern haben grundsätzlich das Recht sich zu beschweren. Dazu werden zwar teilweise Ratgeber angeboten (vgl. z. B. LIS Bremen 2009), Partizipationsstrukturen in der Schulverfassung verankert (Beutel u. a. 2010)
oder systematisch Rückmeldungen der Schülerschaft erhoben (vgl. z. B. Gödde / Sprenger 2014), aber es mangelt für das Schulwesen
an flächendeckend bekannten und leicht zugänglichen Beschwerde- und Ombudsstellen.

Menschenrechte gelten für alle Altersgruppen. Darum sind Menschen- und Kinderrechte gemeinsam zu denken: Ein Mehr an Kinderrechten bedeutet nicht ein Weniger an Rechten für Erwachsene (Hinderer 2015). Auch Beschwerden von Kindern und Jugendlichen beziehungsweise ihren Eltern richten sich im Grunde nicht gegen Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte, sondern sind wichtige Instrumente zur guten Schul- und Einrichtungsentwicklung. Kinderrechte sind als Teil der Menschenrechte zu verstehen, und zusammen mit den Kinderrechten sind auch die Menschenrechte von Erwachsenen zu achten und zu fördern. Darum sind Menschen- und Kinderrechte nicht als zusätzliches Thema oder gar als Belastung der Erwachsenen anzusehen, sondern als Orientierungsrahmen, der in alltäglichen Fragen unterstützend wirken kann (Günnewig / Reitz 2016; National Coalition 2008).