(von Jean-Luc Patry) Aus konstruktivistischer Perspektive können Selbstachtung und Anerkennung der Anderen nicht gelehrt, sondern nur gelernt (im Sinne von eigenständiger Konstruktion) werden. Beides hängt eng mit der moralischen Kompetenz zusammen. Nach dem Motto „Werte ohne Wissen ist blind, Wissen ohne Werte ist verantwortungslos“ muss aber diese moralische Kompetenz mit Wissen verknüpft werden: Wissen über die Gesellschaft und unseren Möglichkeiten, darin wirksam zu werden, Wissen über sich selbst und Wissen über „den Anderen“.

Im Forschungsprogramm „Values and Knowledge Education“ (VaKE) wurde eine Interventionsmethode entwickelt, die Werterziehung und Wissenserwerb miteinander verknüpft. Ausgehend von einem Dilemma, das sowohl gegensätzliche Werte thematisiert als auch Wissen voraussetzt, wird eine Diskussion im Sinne von Blatt und Kohlberg (dies stimuliert die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit) realisiert. Durch die spezielle Dilemma-Gestaltung erkennen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass ihnen Wissen fehlt; dieses suchen sie dann durch das Stellen der entsprechenden Fragen und Informationssuche zu deren Beantwortung zu gewinnen (Inquiry-Based Learning). Dank dieses zusätzlichen Wissens können sie dann das Dilemma differenzierter und kompetenter diskutieren. Unsere Forschungen haben gezeigt, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Verwendung dieser Methode mindestens gleich viel lernen, wie die Kontrollgruppen mit traditionellem Lernen, dass sie extrem hoch motiviert sind, dass sie kritischer und dass sie sozialer werden, etc. (z.B. Patry et al., 2013).

Als Beispiel dient hier ein VaKE-Prozess mit zehn männlichen unbegleiteten jugendlichen Asylsuchenden von 16 bzw. 17 Jahren (Aichinger, 2016; Patry et al., 2016). Ziel war ein Beitrag zur Förderung der Integration. In Österreich ist die erfolgreiche Integration „zum Wohle der gesamten Gesellschaft ein zentrales Anliegen“ (NAP.I, 2016, S. 2). Dabei wird Integration definiert als „ein wechselseitiger Prozess, der von gegenseitiger Wertschätzung und Respekt geprägt ist, wobei klare Regeln den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden sichern“ (ebd.). Das bedeutet u.a. (s. Perspektiven Integration, 2017, insb. S. 51f.):

  • die Vermeidung von konkurrierenden Parallelgesellschaften (Segregation), sondern situationsspezifisches Handeln (Molinsky, 2010);
  • die hinreichende Beherrschung der Sprache der Mehrheits-Ge­sellschaft;
  • so­ziale Kontakte zwischen den Gesellschaften;
  • Verständnis und Akzeptanz des Werte-Systems der anderen Gesellschaft (ohne diese selber übernehmen zu müssen, außer sie sind rechtsverbindlich, etwa staatliche Gesetze);
  • Ermögli­chung gesellschaft­licher Partizipation (inkl. Zugang zu Information und zum Arbeitsmarkt);
  • Vermeidung von (ge­genseitigen) Vorurteilen;
  • dadurch Vermeidung von Radikalisierung, Feindschaft zwischen Grup­pen, Rassismus, stattdessen Verständnis für das „Anderssein“ des an­dere;
  • Anerkennung, dass eine liberale, demokratische Gesellschaft angemessen ist (Partizipa­tion aller; Gerechtigkeit ein­schließlich Gleichberechtigung und Fürsorge; auch Verteidigung der Rechte religiöser Men­schen; Priorität von staatlicher über und religiöser Gesetze).

Integration setzt Selbstanerkennung voraus, da dies eine Grundlage für die Anerkennung des Anderen ist. Dies sollte durch den VaKE-Prozess gefördert werden. Im konkreten Fall waren die Jugendlichen erst vor kurzem (anderthalb bis zwölf Monate) nach Österreich gekommen und hatten einen Asylantrag gestellt. Ihre Deutschkenntnisse waren unterschiedlich, im Schnitt hatten sie etwa sieben Monate lang an Deutschkursen teilgenommen.

Der Prozess folgte dem 16 Schritte umfassenden Ablauf von VaKE-dis nach Weyringer (2008; siehe Tabelle 1). Er dauerte vier Vormittage, jeweils 10:30 bis 13:00 Uhr. Ursprünglich war die Diskussion auf drei Tage angelegt, auf Wunsch der Teilnehmer wurde sie um einen Tag verlängert.

Am ersten Tag wurde den Teilnehmer die folgende Dilemma-Geschichte mit Unterstützung von Bildern präsentiert:

Dilemma „Die Menschen auf dem Planeten Wahinu“

Es ist das Jahr 2173. Auf der Erde leben 15 Milliarden Menschen. Es gibt für so viele Menschen nicht genug Wasser und Essen. Deshalb suchen die Menschen nach einem neuen Planeten. Sie entdecken einen neuen Planeten und geben ihm den Namen „Wahinu“. Nun fliegen aus jedem Teil der Erde einige Menschen mit Raketen dorthin. 100 Menschen können auf diesem Planeten ein ganz neues Leben anfangen. Am Anfang sind alle sehr glücklich. Alles ist neu und interessant. Sie lernen zuerst die neue Umgebung und die anderen Menschen kennen. Alle sind verschieden. Viele sprechen eine andere Sprache und verstehen einander nicht. Es gibt keine Regeln und Gesetze. Es ist ein Chaos! Die Menschen beginnen zu streiten. Sie sagen: „Wir brauchen Regeln und ein neues System!“ Die eine Gruppe sagt: „Es muss eine Person geben, die für uns die Regeln und Gesetze bestimmt. Diese Person muss für uns entscheiden, was richtig und falsch ist.“ Die zweite Gruppe sagt: „Nein, wir alle müssen gemeinsam über unsere Regeln und Gesetze bestimmen!“ Was sollen die Menschen tun? Für welches System sollen sich die Menschen am Planeten Wahinu entscheiden?

Die Teilnehmer wurden zufällig in eine „Pro-König“ und eine „Contra-König“ Gruppe eingeteilt. Nachdem das Verständnis gesichert worden war (Schritt 1 nach Tab. 1) und nach einer Einführung in die Prinzipien der Dilemma-Diskussionen wurden die Jugendlichen zum individuellen Nachdenken (Schritt 2) und zur ersten Entscheidung aufgefordert (Schritt 3). Dann erfolgte die erste Diskussion, wobei nach einem Perspektivenwechsel auch Argumente für die Gegenposition gesucht wurden (Schritt 4, erster Teil: Anerkennung des Anderen).

Am zweiten Tag erfolgte nach einer erneuten kurzen individuellen Reflexion die zweite persönliche Entscheidung (Schritt 5). Nach der Klärung, was ein gutes Argument sei, erfolgte die zweite Diskussion unter Einbeziehung der Diskussions- und Argumentationstechnik und der neu gelernten Begriffe, erneut mit Perspektivenwechsel (Schritt 4, zweiter Teil). Am dritten Tag stellten die Teilnehmer Informationsfragen (Schritt 6), suchten gruppenweise nach Information (Schritt 7) und tauschten die gefundenen Informationen aus (Schritte 8 und 9). Wieder erfolgte eine Reflexion (Schritt 10). Am vierten Tag erfolgte die Fortsetzung der Informationsschritte (Schritte 6 bis 9), dann gab es eine weitere Dilemma-Diskussion (Schritt 12) sowie eine Abschlussrunde mit Reflexion (Schritte 14 bis 16).

Der Prozess wurde aufgrund der jeweiligen, sehr selbstständigen Aktionen der Teilnehmer unter Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen von VaKE angepasst, deswegen wurden auch Schritte ausgelassen oder zusammengefasst. Details zum Vorgehen finden sich bei Aichinger (2016). Der Perspektivenwechsel (Schritte 4, erster und zweiter Teil) war besonders wichtig: Die Teilnehmer der jeweiligen Gruppen wurden aufgefordert, nach dem stärksten Argument der Gegengruppe zu suchen. Dadurch wurden sie angeregt, Argumente für beide Seiten (Pro und Contra) zu erwägen.

Die Teilnehmer empfanden den Workshop als sehr interessant; alle waren äußerst engagiert, trauten sich, ihre Meinung zu sagen, und suchten ihre Argumente zu begründen, auch jene der jeweils anderen Gruppe. Die soziale Position in der Gruppe spielte keine Rolle. Das neue Wissen bezüglich Diskussionen und Argumentationen wurde sofort in die Praxis umgesetzt. Auch das erworbene Wissen über demokratische Prozesse floss unmittelbar in die Diskussion ein. Im Hinblick auf die sprachliche Kommunikation zeigten sich Schwierigkeiten, es konnten aber deutliche Fortschritte festgestellt werden.

Am Schluss sprachen sich alle Teilnehmer in einer freien Diskussion mit deutlich besseren Argumenten und gegenseitiger Rücksichtnahme für ein demokratisches System auf dem Planeten Wahinu mit einer „Regierung“ von zwei bis drei Personen aus. Die „Amtszeit“ wurde auf fünf Monate beschränkt, und es wurde eine gegenseitige Kontrolle vereinbart. Auf eigenen Wunsch führten sie selber eine Wahl durch, zunächst mit der Vorstellung und Diskussion der Wahlprogramme; sodann wurden Stimmzettel gedruckt und eine Wahlurne aufgestellt. Alle Entscheidungen wurden einvernehmlich getroffen. Am Schluss wurden zwei Jugendliche gewählt. Wesentlich war, dass die Abschlussgestaltung (Wahl) von den Jugendlichen selbst vorgeschlagen und umgesetzt wurde. Das demokratische Verhalten und die damit verbundenen Wissensinhalte und Werte – darunter wesentlich auch die Anerkennung der Anderen – kamen selbstständig zur Anwendung.

Insgesamt war diese Dilemma-Diskussion über die Erwartungen hinaus erfolgreich: Die Teilnehmer entwickelten ihre Wertvorstellungen und deren argumentative Unterstützung in Richtung auf demokratische Entscheidungsstrukturen, welche von Selbstanerkennung und Anerkennung der Anderen lebt. Sie lernten einerseits Diskussions- und Argumentationsregeln (als Grundlagen eines demokratischen Prozesses) und demokratiepolitisch relevante Kenntnisse, andererseits waren sie gezwungen und ließen sich gerne darauf ein, sprachlich zu kommunizieren, was zu einer Verbesserung ihrer Sprachkompetenz führte. Damit wurden einige der oben genannten Prinzipien der Integration umgesetzt.

Dieses Beispiel zeigt, dass VaKE – mit theorieadäquaten Anpassungen – zum Zwecke der Förderung von Integration und von Selbstanerkennung und Anerkennung des Anderen eingesetzt werden kann. Dies steht im Einklang mit dem allgemeinen Konzept von VaKE, wobei diese Methode auch in ganz anderen Kontexten sinnvoll sein kann und eingesetzt wurde, in der Schule wie in außerschulischen Kursen oder in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung.

Erfahrungsgemäß kommen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach einem VaKE-Prozess von selbst auf angemessene Lösungen (im obigen Beispiel: Demokratie), wenn auch manchmal erst nach einem längeren Prozess. Es ist dann wichtig, dass die Workshopleiterin oder der -leiter entsprechende Argumente einbringt.

Im vorliegenden Fall hätte es sich bewährt, entsprechende Werte mit Wissen zu verknüpfen und darauf aufzubauen, dass eine Diktatur im Sinne der Philosophenkönige (Platon) zwar ethisch gefordert werden kann, in der Menschheitsgeschichte faktisch aber nicht aufgetreten ist – auch im Sinne von Churchill: „Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind“ und trotz aller Vorbehalte wie jenem von Mencken, der 1920 schrieb: „Wenn die Demokratie sich fortlaufend perfektioniert, widerspiegelt die Präsidentschaft immer exakter die innere Seele des Volkes. Eines großen und glorreichen Tages wird sich der Herzenswunsch der einfachen Leute erfüllen und das Weiße Haus mit einem wahren Idioten besetzt sein“; immerhin kann der Präsident abgewählt werden.

Sollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einer anderen Schlussfolgerung als der von der Leitung befürworteten kommen, muss man sich ernsthaft die Frage stellen, ob die selber vorgeschlagene Lösung angemessen ist, und dies gegebenenfalls im Team diskutieren. Andererseits ist zu betonen, dass es bei VaKE in der dargestellten Form letztlich nicht um die Lösung geht, sondern um den Prozess. Wenn aber VaKE in konkrete Handlungen mündet (oder münden soll), sind die vorgeschlagenen Handlungsoptionen sehr wohl auf allen Ebenen (in der Gruppe wie im Leitungsteam) auf ihre ethische Relevanz hin zu hinterfragen, was unter Umständen zu einem längeren Prozess führen kann; in jedem Fall aber soll bezüglich der Handlung das Prinzip gelten, dass die Leitung keinesfalls ein Vorgehen unterstützen darf, zu dem sie nicht vorbehaltlos steht.

Literatur

Aichinger, K. (2016). „Wert-volle“ Bildung? VaKE-Unterricht für unbegleitete minderjähri­ge Flüchtlinge. Eine explorative Studie im Rahmen des Basisbildungskurses „Babilo“. Salz­burg: Bachelor-Arbeit, eingereicht am Fachbereich Erziehungswissenschaft, Universität Salz­burg.

Molinsky, A. (2010). A situational approach for assessing and teaching acculturation. Journal of Management Education, 34(5), 723–745.

NAP.I (2016): Nationaler Aktionsplan für Integration. Bericht. Wien: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres. URL: https://www.bmeia.gv.at/integration/nationaler-aktionsplan/ (retrieved: September 28, 2016).

Patry, J.-L., Weinberger, A., Weyringer, S., & Nussbaumer, M. (2013). Combining values and knowledge education. In B. J. Irby, G. Brown, R. Lara-Alecio & S. Jackson (Eds.) and R. A. Robles-Piña (Sect. Ed.), The handbook of educational theories (pp. 565-579). Charlotte, NC: Information Age Publishing.

Patry, J.-L., Weyringer, S., Aichinger, K., & Weinberger, A. (2016). Integrationsarbeit mit ein­gewanderten Jugendlichen mit VaKE (Values and Knowledge Education). International Dia­logues on Education: Past and Present. IDE Online Journal, 3(3), 123-139. http://www.ide-journal.org/article/2016-volume-3-number-3-integrationsarbeit-mit-eingewanderten-jugendlichen-mit-vake-values-and-knowledge-education/.

Perspektiven Integration (2017). Zum Thema: Parallelgesellschaften. Segregation und desintegrative Milieus. Wien: Österreichischer Integrationsfonds. Weyringer, S. (2008). Die Anwendung der VaKE-Methode zur Entwicklung eines Europäi­schen Bürgerbewusstseins – dargestellt am Platon Jugendforum. Dissertation an der Uni­versität Salzburg, Fachbereich Erziehungswissenschaft