Briefwechsel mit einem Kind – Eine Begegnung im Schreiben

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(von Eva Maria Kohl, Januar 2025)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

1974 veröffentlicht Franz Fühmann im Kinderbuchverlag in Ostberlin seine Nachdichtung des Prometheus. Der Mythos vom Göttersohn ist gewiss keine leichte Lektüre für ein Grundschulkind. Der neunjährige Joachim Damm und sein jüngerer Bruder begegnen ihr, als sie den Text vorgelesen bekommen. Joachim hat sofort eine Menge Fragen, die er beantwortet haben möchte. Seine Mutter rät ihm, Franz Fühmann selbst danach zu fragen. Joachim Damm nimmt ein Blatt Papier und schreibt los.
Der Briefwechsel des Kindes mit dem Dichter ist vollständig erhalten und wird 2018 im Hinstorff Verlag Rostock veröffentlicht. Bei der Lektüre dieser ungerwöhnlichen Korrespondenz wird deutlich, welche Prägungen die Begegnung des Kindes mit dem Dichter bei ihm hinterließ und wie umgekehrt das reale das fiktive Kindheitsbild im Werk des Dichters berührt. Bevor ich auf Details des Briefwechsels eingehe möchte ich etwas zum fiktiven Kindheitsbild im Prometheus-Buch Fühmanns bemerken (vgl.dazu Kohl 2022). Denn inwiefern dieses Buch tatsächlich an Kinder adressiert war, ist beim Erscheinen des Buches umstritten gewesen.

Prometheus ein Kinderbuch?

Im überlieferten Mythos ist der Titanensohn kein Kind, sondern ein Jugendlicher. Fühmanns Prometheus, die wichtigste Identifikationsfigur für Kinder im Buch, ist dagegen deutlich naiver, argloser, gutgläubiger und abenteuerlustiger. Neugier und Wissbegierde treiben ihn an, spielerisch geht er auf Entdeckungsreisen, freiwillig begibt er sich in Gefahr und ist mehrfach, aber aus Überzeugung, ungehorsam.
Die Erzählung ist sprachlich sehr dicht, anschaulich und poetisch. Fühmann arbeitet mit sprachspielerischen Passagen und fordert seine kindlichen LeserInnen immer wieder zum eigenen Experimentieren mit der Sprache auf. In seinem vier Jahre nach dem Prometheusbuch veröffentlichten Sprachspielbuch Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel (1978) taucht der gleiche Gestus der Anstiftung zur eigenen Produktivität wieder auf.
Fühmann hat sehr genau überlegt, wieviel Wirklichkeit Kindern zumutbar sei und was man besser noch ausspare oder umschreibe. Bei der Bearbeitung des Reineke Fuchs (1965) hatte er die im Original erzählte Vergewaltigungsszene weggelassen bzw. umgedeutet in „halbtot geprügelt“ (Fühmann 1984, 318.) Jetzt ist ihm klargeworden, dass er es hätte doch erzählen müssen. Fühmann findet, es „sollte auch für ein Kinderbuch gelten: Man erzählt das Ganze, oder man lässt es sein.“ (Fühmann 1984, 320)
Besonders wichtig erscheint mir die pädagogische Dimension der Nachdichtung vom Prometheus. Das wohl eindrücklichste Lehrstück des Buches ist die Szene, als Erdmutter Gaia dem von Zeus auf die Erde geschleuderten verkrüppelten Hephaistos auf die Beine hilft, indem sie ihn zwingt, sich selbst zu helfen.
Dieses Selbsthelfermotiv findet sich in vielen Szenen im Buch wieder. Der Held muss selbst nach Lösungswegen suchen, um sein selbstgestecktes Ziel zu erreichen. Genau das findet man auch in Volksmärchen wieder: Anstiftung zum eigenen Tun, selbst nachdenken, selbst sich auf den Weg machen. In der Geschichte um Prometheus bietet Fühmann seinen kindlichen LeserInnen Modelle von Menscheitserfahrungen (vgl. Fühmann 1993, 486) an. Eine solche Erfahrung macht auch der neunjährige Joachim Damm, als er Fühmann spontan einen Brief schreibt und sich daraus ein über Jahre fortgesetzter Briefwechsel entwickelt.

Vorlesestunden

„Erziehung geschieht immer in Beziehung“, befindet Annedore Prengel ( Prengel, 2013,
S. 9) Ihren Argumentationen folgend kann davon gesprochen werden, dass eine wie die hier beschriebene Beziehung zwischen einem Kind und einem Dichter eine pädagogische Beziehung ist. Angesiedelt ist sie auf der „Mikroebene gesellschaftlicher Ereignisse “ (Prengel, 2013, S. 9 und S.19).
Der familiäre Hintergrund im Hause Damm spielt für die erste Begegnung des neunjährigen Joachim Damm mit den Kinderbüchern Fühmanns sicher auch eine Rolle. Sigrid Damm ist eine ausgewiesenen Kennerin der Weimaer Klassik und Mitarbeiterin im Ministerium für Kultur, Abteilung Verlagswesen, wo sie Zugang zu Erstauflagen hatte und deshalb die Ausgabe des Prometheus relativ früh in Händen hielt und ihrer Familie als Vorlesestoff mitbringen konnte. Später wird Sigrid Damm selbst mit Fühmann korrespondieren und noch später auch über ihn publizieren. Im Konflikt um die von der Staatsmacht provozierte Ausreise der Dichterin Sarah Kirsch aus der DDR in die BRD versuchten beide gemeinsam, sie zum Bleiben zu bewegen, vergeblich. Die politische Situation der siebziger, achtziger Jahre wird im Briefwechselband überaus deutlich. Aber hier soll in erster Linie die Auseinandersetzung des Kindes mit der Welt und sich selbst im Schreiben aufgezeigt werden.

Begegnung auf Augenhöhe

Joachim Damm schreibt in seinem schönen Essay im Briefband über seine Freundschaft mit dem Dichter: „Auch heute, da ich fast genauso alt bin wie Fühmann, als ich ihn kennenlernte, profitiere ich von unserer Begegnung. In den letzten Jahren habe ich viel mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet und große Figurentheaterprojekte umgesetzt…..Dabei mache ich mir ein Vermächtnis aus meiner Freundschaft zu Franz Fühmann zu eigen: die bedingungslos gleichberechtigte Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen einem Künstler und einem Kind.“
(Fühmann 2018, 29)
Fühmann antwortet schon elf Tage später auf den ersten Brief des Kindes vom März 1975. Er schreibt mit der Schreibmaschine und beantwortet jede Frage ausführlich und in einer Sprache, die der Neunjährige sofort verstehen kann. Joachim möchte wissen, warum die Okeanosmädchen dem mörderischen Titanen helfen. Fühmann antwortet, dass die Mädchen doch seine Töchter seien, außerdem wären sie gutmütig und ordnungsliebend, daher möchten sie nicht, dass der zerstückelte Uranos einfach so rumschwimmt und sammeln ihn wieder ein. (Fühmann 2018, 35)
Joachim ist stolz über die ausführliche Antwort des Dichters und zeigt den Brief allen seinen Freunden. Der Briefwechsel wird fortgesetzt. Selbstbewußt berichtet das Kind dem Dichter, dass er jetzt auch ein Buch schreibe, über einen Tierwissenschaftler, 21 DINA 4 Blätter habe er schon geschrieben und dazu viel in seinen wissenschaftlichen Büchern geblättert. Und er schlussfolgert: „Und ich muss ehrlich sagen, durch diese Geschichte bin ich ein bisschen klüger geworden.“ (Fühmann 2018, 37). Diesmal dauert es offenbar einige Zeit, bis Fühmann wieder antwortet, aber dann sehr ausführlich und überrascht von der Zeichnung, die Joachim im nächsten Brief beigefügt hatte und die den Titel trägt: „ So stelle ich mir dein Arbeitszimmer vor“. (Fühmann 2018, S. 39)
Die Antwort Fühmanns ist knapp drei Druckseiten lang. Ausführlich kommentiert er jedes Detail in der Kinderzeichnung. Am meisten verblüfft ihn, dass Joachim seinen Schreibtisch vor das Fenster platziert hat und er mit dem Rücken zur Tür sitze. Fühmann schreibt: „ Das ist für Leute meines Jahrgangs ungewöhnlich. Wer einmal Soldat gewesen ist, egal, auf welcher Seite, der hat sich nämlich zumeist angewöhnt, immer so zu sitzen, dass er zur Tür schaut. Das konnte leicht über sein Leben oder seinen Tod entscheiden. Ich habe mich auch sehr schwer daran gewöhnen müssen mit dem Rücken zur Tür zu sitzen. Aber ich möchte beim Schreiben ein Stück vom Himmel sehen, egal, ob er grau oder blau oder dunstig ist.“
(Fühmann 2018, 40)
Der 52 jährige erzählt dem Neunjährigen vom Krieg und so, dass sich dieses anschauliche Detail bestimmt nicht mehr vergessen lässt. Auch Joachim Damms Mutter geht später in einem ihrer Briefe darauf ein, es hat sie sehr betroffen gemacht. Aber sie vermeidet jede Beteiligung oder gar Einmischung in die ungewöhnliche Korrespondenz ihres Sohnes. Der Dichter und das Kind begegnen sich im Schreiben. Über lange Zeit wird das die erste prägende Erfahrung für das Kind sein.
Im gleichen Brief gibt es eine weitere Stelle, die hervorgehoben werden sollte. Fühmann greift ein Detail aus Joachims Ferienlagerbericht auf und schreibt: ….zum Zirkusdirektor gratuliere ich Dir schön! Es gibt auch bei uns Erwachsenen verschiedene große Zirkusse, einer davon heißt Schriftstellerverband. Vielleicht wirst Du da auch mal Direktor wenn du erwachsen bist, wer weiß. Es gibt da drin auch alles mögliche: Pferde, Esel, vielleicht auch hier und da einen Löwen, auch Mikey-Mäuse und Trampeltiere und Spatzen und Elefanten, na, und was Du so willst. Ich selbst würde mich für ein Kamel halten. Ich arbeite blödsinnig viel und bin ausdauernd, komme mit wenig Nahrung aus und lasse mich leicht an der Nase herumführen.“ (Fühmann 2018, 42)
Es muss offen bleiben, ob das Kind die gesellschaftspolitischen Anspielungen und die Ironie dieser Briefpassage schon versteht. Aber bedeutsam scheint mir, dass Fühmann ihm diese Bemerkungen zumutet, nicht provozierend, nicht belehrend, sondern eher wie dahin gesagt in einem Gespräch mit einem Freund, der sich unter den Anspielungen des anderen etwas vorstellen kann.
In späteren Briefen Fühmanns an Joachim wird es öfter Bemerkungen über seine politischen Auseinandersetzungen mit Germanisten, Politikern oder Journalisten geben, die Fühmann seinem kindlichen Briefpartner zumutet. Manchmal gibt es eine kleine Übersetzung in die kindliche Erfahrungswelt, die dann so aussieht: „Dazwischen war noch ein Krach mit der BZ am Abend. Die hatten ein Gespräch mit mir gemacht, das hatten sie abgedruckt, aber den wichtigsten Satz weggelassen. Darauf musste ich ihnen einen Brief schreiben. Darauf waren die böse und schrieben auch einen Brief. Daraufhin wollte ich wieder einen Brief schreiben, aber dann schrieb ich doch keinen. Siehst du, so vertut man seine schöne Zeit. Dazwischen war ich auch mal im Kulturministerium. Und so blieben dann die dringenden Sachen wie unser Briefwechsel liegen. Aber so ist das. Man nennt das: Die verantwortliche Position des Schriftstellers in der entfalteten sozialistischen Gesellschaft. Na ja.“ ( Fühmann 2018, 53)

Einsichten in die Arbeitsweise eines Schriftstellers

Im Brief vom November 1975 beschreibt Fühmann ausführlich, wie er zunächst handschriftlich und am liebsten mit Filzstiften schreibe, später, bei der Korrektur, mit Schere und Klebstoff hantiere , so dass am Ende ein Manuskript in Kartonstärke herauskommt, mit dem man jemanden erschlagen könnte. Sein Lieblingswerkzeug beim Schreiben seien Filzstifte, er habe (und er übertreibt gewaltig, was seinen kindlichen Briefpartner erfreut haben dürfte) 23 874 Sorten davon, aber leider keinen einzigen goldenen.
Im Weihnachtsbrief nimmt Joachim darauf Bezug und schreibt, wie er versucht habe, für Fühmann einen goldenen Stift herzustellen, aber seine Erfindung habe nicht geklappt. Die Farbe sei aus dem auseinandergenommen alten Stift wieder herausgetropft, leider.
Im gleichen Weihnachtsbrief berichtet Joachim ausführlich über die Anfänge seiner Beschäftigung mit dem Puppenspiel. In seiner Schule ist eine Arbeitsgemeinschaft Laientheater gegründet worden. Joachim fängt an, selbst Puppen zu bauen, sehr bald auch Marionetten und für sie Stücke zu suchen, die man aufführen kann. Die auch bei Kindern bekannten und beliebten Stücke von Spejbel und Hurvinek, eine tschechische Figurengruppe mit Marionetten, dienen offensichtlich als Einstieg für Joachims Beschäftigung mit dem Puppenspiel. Der Wunsch, sich noch stärker künstlerisch auszudrücken führt vom Schreiben zum handwerklichen Gestalten. Das Puppenspiel fasziniert ihn. Fühmann wird ihm später jede Menge Fachliteratur besorgen und Kontakte zu professionellen Puppenspielern und Aufführungen vermitteln.
Nunmehr zehnjährig stellt Joachim Franz Fühmann eine kühne Frage, die den gesamten weiteren Briefwechsel beherrschen und auch dazu führen wird, dass beide sich persönlich treffen und schließlich kollegial zusammen arbeiten.
Joachim schreibt: „Ich weiß nicht, ob ich das fragen darf, aber wenn Du mal Zeit hast, mir eine kurze Geschichte im Dialog geschrieben, mit einer dicken Dame, einem Sultan, einem Ritter, einer Prinzessin, einem orientalischen Zauberer und einem Drachen und Sklaven schreiben könntest. Ich würde mich freuen und Dir auch sehr dafür danken…“ (Fühmann 2018, 51) .

Gemeinsame Arbeit am Puppenspiel

„….der grüngefleckte Teufel soll Dich holen“, antwortet Franz Fühmann. „Du hast mir ja einen niedlichen Floh ins Ohr gesetzt! Seit ich Deinen Brief bekommen habe – das war erst vor ein paar Tagen – geht mir die dicke Frau und der orientalische Zauberer nicht mehr aus dem Kopf. Heute Nacht habe ich von ihnen geträumt. Die dicke Frau hatte Hunger und fraß den Drachen, und danach noch etwas Sklaven. – Aber das ist nichts für eure AG.“ ( Fühmann 2018, 52)
Fühmann entschuldigt sich für seine späte Antwort und schildert auf über vier Briefseiten ausführlich seine momentanen Schreibblockaden bei der Arbeit am zweiten Teil des Prometheus. Er bietet dem Jungen einen „Handel“ an. Wenn Joachim ihm eine Lösung für seinen am vereisten Felsen über einem gefährlichen Löwen hängenden Göttersohn schreibe, dann wird er ihm die Puppenspiel-Szene schreiben. Aber sofort widerruft Fühmann seinen Tauschhandel wieder, denn Joachim wird gewiss seine Lösung für den Handlungsverlauf finden und dann müsse er das Stück für ihn schreiben, und das kann er gar nicht. Fühmann gesteht, keinerlei Erfahrungen mit Theaterarbeit zu haben.
Im April 1976 antworte Joachim so: “Also weißt du, Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Ich kenne deine Arbeit und weiß genau, wieviel Sachen Du zu erledigen hast. Und böse bin ich überhaupt nicht. Wenn du wüßtest wie ich mich über den Brief gefreut habe. Ich habe den Brief in meinen Schoß gelegt und lange lächelnd nachgedacht. Es fallen einem da viele Dinge ein…“ (Fühmann 2018, 56)
Und dann kommt ebenfalls eine über fünfseitige Antwort, in der Joachim ausführliche Details für die Konfliktlösung im Prometheustext entwirft und mit verschiedenen Zeichnungen illustriert. Die gedankliche Begegnung im Brief richtet sich nun auf etwas Sichtbares, die Puppen, und Joachim hat genaue Vorstellungen zu ihrem Bau und schenkt dem Dichter auch später verschiedene Objekte, die dieser sehr schätzt und in seinem Arbeitszimmer ausstellt, so dass er sich damit beschäftigen kann.
Eine wechselseitige Kollegialität entsteht: der Dichter sucht nach Worten in einer für ihn selbst neuen, nämlich der dialogischen Form. Das Kind sucht nach einer Konkretisierung des Gedanklichen. Er will den Text in die Hand nehmen können, damit hantieren, sichtbar werden lassen. Die Puppen entstehen. Später helfen Mutter und Großmutter mit, Kostüme für die Puppen zu nähen und mit Pajetten zu besticken.
Am 23.6.76 meldet Fühmann: … hier schicke ich Dir das bestellte Stück für die angegebenen Puppen. (Fühmann 2018, 63) Den schon auf 100 Seiten angewachsenen zweiten Prometheusteil hat Fühmann allerdings verworfen, Joachim wird dadurch die Erfahrung vermittelt, wie langwierig und mühsam Schreiben ist und wieviel Überarbeitungen ein Text bedarf. Und noch etwas lernt Joachim bei der Erarbeitung des Puppenspieltextes. Fühmann teilt mit ihm die konkreten Überlegungen für eine mögliche Reproduktion des Stückes.
Für die Aufführung des fertigen Puppenspiels schlägt er Joachim einen Vertragstext vor, indem festgelegt wird, wer von ihnen beiden wie viele Prozente an den Einnahmen bekommt und wie sie es mit den Steuern halten wollen. Fühmann erklärt, dass er Joachim Damm die alleinigen Rechte am Stück überlassen will.
Im siebenseitigen Antwortbrief mit vielen Zeichnungen bedankt sich Joachim herzlich und geht detailliert auf die Charaktere der Figuren, auf die Dialoge, die vielen Wortspiele ein und beschreibt dann, wie er an den Puppen weiter arbeiten will und welche Ideen er für die Bühnenbilder hat. Es sind konkrete Arbeitsschritte und sie werden über Monate immer weiter getrieben.

Produktivierende Begegnungen

Das Puppenspiel hat am 16. Januar 1977, einen Tag nach dem 55. Geburtstag des Dichters, seine erste Premiere in der Wohnung der Familie Damm. Weitere Aufführungen in einer Berliner und einer Schule in Märkisch Buchholz folgen, an der auch Joachim Damms kleiner Bruder Tobias beteiligt ist. Eine komplette Textfassung des Stückes findet sich im genannten Briefband. Es ist so betitelt:

Franz Fühmann. Der glückliche Ritter von Trinitat oder
Wie wird man Oberdiskutierer.
Ein Puppenspiel in 4 Akten für Joachims sechs Puppen.

Erst 1999, lange nach Fühmanns Tod, erscheint das Puppenspiel auch als Kinderbuch, illustriert von Egbert Herfurth im Hinstorff Verlag Rostock, dem Hausverlag Fühmanns (vgl. Ritter, 2010).

Der Briefwechsel Franz Fühmanns mit Joachim Damm endet im März 1984, im Juli stirbt Franz Fühmann in der Berliner Charite an einem schweren Krebsleiden. Zu diesem Zeitpunkt haben sich beide seltener gesehen und weniger korrespondiert. Joachim Damm hat sich für eine Ausbildung zum Puppenspieler entschieden, er studiert an der Kunsthochschule in Berlin-Weissensee. Bis heute arbeitet Joachim Damm an Kunstprojekten mit Kindern und Jugendlichen.
Die frühe und zielgerichtete Ausbildung seines künstlerischen Talents und sein beruflicher Werdegang haben nachweislich mit der intensiven Begegnung mit dem Dichter Franz Fühmann in seiner Kindheit zu tun. Im Schreiben sind sie sich begegnet, schreibend haben sie sich gegenseitig befragt, erkundet, verständigt, schließlich etwas gestaltet. Durch seine Puppen und den Puppenbühnenbau hat das Kind dem Dichter eine Sichtbarkeit seines Textes in einer zweiten Gestalt ermöglicht. Ein dialogischer Text ist entstanden, zu dem sich Fühmann vielleicht ohne die Bitte und Aufforderung des Kindes nicht entschlossen hätte, denn bis zu diesem Zeitpunkt hat er Gedichte, Prosa und Essays geschrieben. Nach der Arbeit am Puppenspieltext hat sich Fühmann auch an Hörspielfassungen gewagt, seine letzten, auf dem Krankenbett in der Charite entstandenen Hörspiele Märchen für Erwachsene ( Fühmann 2008) sind allerdings ausschließlich an Erwachsene gerichtet, für Kinder wären sie verstörend.

Erfahrungen im Möglichkeitsraum der Kunst

Das Kind Joachim hat schreibend etwas über sich und die Welt erfahren, er hat erleben können, wie eine Kunstform, das Puppenspiel, entstand und den Wunsch verspürt, weiterzugehen, noch mehr auszuprobieren, bildnerisch und handwerklich zu gestalten. Puppenspiel und Puppenbau professionalisierte er über Jahre, Bühnenbilder entstanden, schließlich arbeitete er in Kunstprojekten mit Kindern und Jugendlichen. In seinem illustrierten zweiten Essay im genannten Briefband erzählt er, wie Fühmann ihm dabei – fiktiv- immer wieder über die Schulter geschaut hat, ihn in schwierigen Situationen ermutigt und gestützt hat. Er stellt sich vor, wie Fühmann an jenem 4. November 1989, kurz vor dem Fall der Mauer, auf der denkwürdigen Demonstration mit Kulturschaffenden auf dem Berliner Alexanderplatz gesprochen hätte. Wenn er hätte dabei sein können. Aber das hat Fühmann nicht mehr erleben können, er starb fünf Jahre zuvor.
Joachim Damm zeichnet und schreibt diese fiktive Szene. Sie ist im Briefwechselband aufgenommen. So verbündet sich die Erfahrung des realen, schreibenden Kindes viele Jahre später mit der fiktiven Dimension des Schreibens und es entsteht ein neues Bild, ein Möglichkeitsraum, den so nur die Kunst bietet: der Freund, der Dichter, lebt.

Primärliteratur

Fühmann, Franz: Prometheus. Die Titanenschlacht. Mit Illustrationen von Nuria Quevedo. Berlin: Kinderbuchverlag, 1974
Fühmann, Franz: Die Briefe. Band 3. Briefwechsel mit Joachim Damm. Rostock: Hinstorff Verlag ,2018
Fühmann,Franz: Der glückliche Ritter von Trinitat oder Wie wird man Oberdiskutierer. Ein Puppenspiel für Kinder mit Bildern von Egbert Herfurth.Rostock: Hinstorff Verlag, 1999

Sekundärliteratur

Fühmann, Franz: Antwort auf Prometheus so? In: Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur 9 (1975) H. 36, 38-39
Fühmann, Franz: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. In: Fühmann, Franz Werkausgabe. Bd.3. Rostock: Hinstorff Verlag 1993
Fühmann, Franz: Das mythische Element in der Literatur. In: Ders.: Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur. Rostock: Hinstorff 1975, 147-219
Fühmann, Franz: Grausames vom Reineke Fuchs. In: Ders.: Reinecke Fuchs. Märchen nach Shakespeare. Das Nibelungenlied. Märchen auf Bestellung. Rostock. Hinstorff Verlag 1984, 317-332
Fühmann, Franz: Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel. Ein Spielbuch in /Sachen Sprache/ Ein Sprachbuch voll Spielsachen/ Ein Sachbuch der Sprachspiele. Mit Illustrationen von Egbert Herfurth. Berlin: Kinderbuchverlag,1978

Fühmann, Franz: Märchen für Erwachsene. Hörspiel, Essays und andere Texte. Herausgegeben von Jürgen Krätzer. Rostock: Hinstorff Verlag 2008

Heinze, Barbara (Hrsg.): Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen. Rostock 1998
Kohl, Eva Maria: Das Uralte und Ewig-Neue. Zum „Prometheus“ Buch von Franz Fühmann. In: Kohl, Eva Maria und Ritter, Michael. Kindheitsgeschichten. Eine Spurensuche in der Ostdeutschen Kinder-und Jugendliteratur. Gransee: Edition Schwarzdruck 2022, darin S. 100 bis 109
Prengel, Annedore: Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung,Verletzung und Ambivalenz.Opladen,Berlin, Toronto. 2013, S.19

3 verschieden illustrierte Ausgaben des „Prometheus“ von Franz Fühmann

Kinderbuchverlag Büchergilde 2004

Hinstorff Verlag 2011

Ostberlin 1974

Autorin und Bezüge zu Annedore Prengel

Eva Maria Kohl ist Professorin (i.R.) für Grundschuldidaktik Deutsch an der Martin-Luther-Universiität Halle-Wittenberg. Sie lernte Annedore Prengel 1998 kennen, als sie an die Hallenser Universität berufen wurde und anfing, ein Archiv für Kindertexte aufzubauen, in dem freie Texte von Kindern gesammelt, aufbewahrt und der Forschung zugänglich gemacht werden. Annedore Prengel unterstützte dieses Vorhaben nachdrücklich. Aus der konstruktiven gegenseitigen Zusammenarbeit erwuchs bald eine Freundschaft, die bleibt und froh macht.