Schulschließungen und Lernen zu Hause – wie kann das gelingen?
(von Klaus Seifried) Die bundesweiten Schulschließungen stellen Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern aber auch die Lehrkräfte vor neue, ungewohnte Herausforderungen. Das Wort „homeschooling“ wird mittlerweile dafür in der öffentlichen Diskussion benutzt.
In Deutschland gibt es seit 1918 eine Schulpflicht, die es Kindern aus allen sozialen Schichten ermöglichen soll, zur Schule zu gehen. Hausunterricht durch Lehrkräfte gibt es nur für langfristig erkrankte Schülerinnen und Schüler. Ein Hausunterricht durch die Eltern, ein „homeschooling“ ist in Deutschland nicht erlaubt. Deshalb ist das gegenwärtige „Lernen zu Hause“ im rechtlichen Sinne eine Form der Hausaufgabenbetreuung durch die Eltern.
In vielen anderen Ländern, in Frankreich, Italien, England, Polen den USA oder Australien gibt es dagegen keine Schulpflicht, sondern eine „Bildungspflicht“, d.h. Eltern müssen für die Bildung ihrer Kinder sorgen, können das aber auch zu Hause tun.
Schulschließungen gab es seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr und dies stellt alle Beteiligten vor große, ungewohnte Herausforderungen.
- Die Schülerinnen und Schüler müssen mehr Verantwortung für sich und ihr Lernen übernehmen. Die Eigenverantwortung steigt. Das erfordert Motivation, Selbstdisziplin und einen geregelten Tagesablauf. Viele schieben Aufgaben vor sich her, die sich manchmal zu einem unüberwindlichen Berg aufhäufen.
- Die Eltern sind häufig im homeoffice oder gehen zur Arbeit, sollen sich ganztags um ihre Kinder kümmern, die Hausaufgaben betreuen, den Haushalt managen und haben unter Umständen finanzielle, existentielle Sorgen. Viele Eltern meinen, dass sie jetzt den Unterricht und die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer auch noch ersetzen müssen.
- Lehrerinnen und Lehrer versuchen von heute auf morgen digitale Lernformen zu entwickeln, für die viele Schulen und sie selbst nur unzureichend ausgestattet und qualifiziert sind.
Die gegenwärtige Situation muss als Krisen- und Ausnahmesituation verstanden werden. Das heißt, jedes Mitglied der Gesellschaft muss Verantwortung übernehmen und neue kreative Wege und Lösungen finden.
Wie kann das Lernen zu Hause gelingen?
- Eltern können den Unterricht und die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer nicht ersetzen. Ihnen kommt nun die Aufgabe zu, ihren Kindern einen strukturierten Tagesablauf mit festen Arbeitszeiten und Pausen zu bieten sowie mit ihnen gemeinsam einen Tages- und Wochenplan zu erarbeiten. Eltern sollten in Konfliktsituationen Ruhe bewahren und bei großem, andauerndem Lernwiderstand ihrer Kinder sich vom Klassenlehrer oder einer Schulpsychologin beraten lassen.
- Die Schülerinnen und Schüler sind gefordert, für ihr Lernen mehr Verantwortung zu übernehmen, z.B. ihren Schreibtisch aufräumen, das Handy während der Arbeitsphasen wegzulegen, mit Lieblingsfächern zu beginnen und Kontakt zu ihren Lehrerinnen und Lehrern zu halten. Hierbei brauchen sie Unterstützung von den Erwachsenen.
- Lehrerinnen und Lehrern wird empfohlen, sich im Unterrichtsstoff auf das Wesentliche zu beschränken, verständliche Aufgaben zu stellen und so gut es geht regelmäßig Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern zu halten: In der Grundschule möglichst ein tägliches Telefonat mit jedem Schüler und einmal wöchentlich ein Telefonat mit den Eltern zur Lernsituation. Wichtig dabei ist ein regelmäßiges Feedback zu den geleisteten Aufgaben.
Auch an weiterführenden Schulen sind ein regelmäßiger Lehrer-Schüler-Kontakt und ein verbindliches Feedback zu den erstellten Aufgaben wichtig. Dies gilt ebenso für die Fachlehrerinnen und Fachlehrer, die mehrere Klassen und Kurse unterrichten.
Lernen ist ein sozialer Prozess. Schülerinnen und Schüler brauchen gerade jetzt einen direkten Kontakt zu ihren Lehrerinnen und Lehrern.
Der wichtigste Wirkfaktor im Unterricht ist eine positive Lehrer-Schüler-Beziehung und ein positives Lernklima zwischen den Schülerinnen und Schülern. Doch wie können wir positive Beziehungen zu den Schülerinnen und Schülern herstellen, wenn die Schulen geschlossen sind?
In der gegenwärtigen Situation ist es besonders wichtig, dass Eltern in Konfliktsituationen Ruhe bewahren und für ein gutes Familienklima sorgen.
Für Lehrerinnen und Lehrer ist es besonders wichtig, einen direkten Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern herzustellen, im Einzelgespräch und als Gruppe, per Telefon, Mail, Chatnachricht oder Videokonferenz. Das Versenden oder Hochladen von Lernstoff und Aufgaben reicht nicht.
- Eine Schulleiterin schreibt Briefe an „verhaltensschwierige“ Schülerinnen und Schüler, die vor Corona aufgrund von Regelverstößen häufig den Unterricht verlassen mussten und in der Schulstation waren. Sie hält den Kontakt gerade zu diesen Schülerinnen und Schülern, um ihnen ihr Interesse und damit Wertschätzung zu geben.
- Die Klassenlehrerin einer 3. Klasse der Grundschule bringt Arbeitsmaterial persönlich zu Familien, die keinen Computer oder Drucker haben. Sie erkundigt sich per Telefon über die Arbeitsergebnisse und Schwierigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler. Sie spricht auch mit den Eltern, ob es beim Erledigen der Aufgaben Schwierigkeiten gab.
- Ein Grundschullehrer stellt bei youtube Mathe-Erklärvideos zur Multiplikation für die Schülerinnen und Schüler der zweiten Klasse ein, denen dies die Erledigung der Hausaufgaben deutlich erleichtert.
- Der Sportlehrer einer Grundschule macht kleine Videos mit Übungen, die selbst in der kleinsten Wohnung umgesetzt werden können.
- Lehrkräfte an Oberschulen treffen ihre Schülerinnen und Schüler in Videokonferenzen und virtuellen Klassenzimmern. Sie nutzen Schulclouds und digitale Lernformate.
- Auch die Eltern brauchen Kontakt zur Schule und Unterstützung. Daher bietet eine Schule eine virtuelle Sprechstunde für Eltern als Videokonferenz an.
Nach einer repräsentativen Forsa-Umfrage haben allerdings nur 33% der Lehrerinnen und Lehrer an Grundschulen, 36% an Haupt-, Real- und Gesamtschulen und 43% an Gymnasien regelmäßigen Kontakt mit ihren Schülerinnen und Schülern. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer nutzen E-Mails (79%), nur 46% das Telefon oder digitale Lernplattformen. Das häufigste Lernmedium ist noch immer der Arbeitsbogen (79-90%). (Deutsches Schulbarometer Spezial 2020).
Hier zeigt sich, dass die Schülerinnen und Schüler mit dem Lernstoff weitgehend allein gelassen werden. Gerade für Kinder und Jugendliche in armen Familien, in denen kein Internetzugang oder Computer zur Verfügung steht, wird sich der Lernrückstand durch die Schulschließungen deutlich verstärken. Gleiches gilt für bildungsferne Familien oder Eltern mit Sprachdefiziten.
Gleichzeitig sind aktuell Lehrerinnen und Lehrer vom Unterricht, Erziehungskonflikten, Aufsichten und Konferenzen entlastet. 51% der Lehrkräfte an Grundschulen und 31% der Lehrkräfte an Gymnasien antworten, dass sie aktuell weniger belastet sind (Deutsches Schulbarometer Spezial 2020). Diese freie Zeit und Energie sollte in die Betreuung, das Feedback und die Beziehungsarbeit mit den Schülerinnen und Schülern zu Hause investiert werden.
Die Fortbildungsinstitute für Lehrerinnen und Lehrer haben bundesweit alle Fortbildungen aufgrund des Versammlungsverbots abgesagt. Es ist Aufgabe der Fortbildungsinstitute, den Lehrerinnen und Lehrern digitale Lernformen und Materialien zur Verfügung zu stellen und die Lehrkräfte dadurch zu entlasten. Dies geschieht noch zu wenig. Denn die Beziehungsarbeit der Lehrkräfte mit den Schülerinnen und Schülern sollte in Zeiten der Schulschließungen und eventueller Kurzstundenpläne an erster Stelle stehen.
Zusätzlich stehen Schulpsychologinnen und Schulpsychologen in allen Bundesländern zur Verfügung, um Eltern telefonisch zu beraten, wie sie mit Lernunlust ihrer Kinder und Konflikten in der Familie umgehen können. Gerade dort, wo es im normalen Schulalltag aufgrund von Schulschwierigkeiten, Armut und schwierigen Familienverhältnissen, von psychischen Problemen oder akuten Krisen (z.B. durch Verlust eines Angehörigen) Lernprobleme und Konflikte gab, bitten wir die Lehrkräfte die Eltern auf dieses Angebot ausdrücklich hinzuweisen.
Die Schulpsychologischen Beratungsstellen stehen natürlich weiterhin insbesondere auch den Lehrerinnen und Lehrern oder Schulleitungen zur Verfügung, um sich in dieser Krisensituation beraten zu lassen, da die Krise gerade auch für sie außergewöhnliche Herausforderungen und Belastungen beinhaltet.
Klaus Seifried
Schulpsychologiedirektor i.R.
Bundesvorstand Sektion Schulpsychologie im BDP