„Achtsam und bedürfnisorientiert handeln – auch in Konflikten“  

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Wir freuen uns, die Kindheitspädagogin und Fachautorin Kathrin Hohmann für ein Interview gewonnen zu haben, die sich seit vielen Jahren für eine achtsame und bedürfnisorientierte Erziehung in Kita, Krippe und Kindertagespflege einsetzt.

Kannst Du uns Beispiele nennen, wie es gelingen kann, starke Emotionen wie Wut gemeinsam mit Kindern achtsam zu begleiten?

Letztlich fühlen wir und auch die Kinder den Tag über so vielschichtig. Gefühle kommen und gehen – minütlich. Bei den heiteren Gefühlen fällt es uns meist gar nicht auf, sie sind willkommen, sie dürfen sein. Interessant wird es hingegen bei intensiven Gefühlen wie die der Trauer, der Angst, des Schmerzes, die letztlich nicht selten in aufschäumender Wut enden.

Zum Beispiel:

„Ein Morgen in der Kita: Eine Kollegin ist erkrankt, die Praktikantin kommt heute erst gegen Mittag. Nachdem Andrea 18 Kinder begrüßt und kurze Tür- und Angel-Gespräche mit den Eltern geführt hat, sitzt sie etwas verschwitzt im Morgenkreis. Ein Kind nah an ihr, das andere auf ihrem Schoß- die beiden konnten sich gerade erst von der Trennungssituation beruhigen. Alle singen gemeinsam das Begrüßungslied und wollen den Tag besprechen. Plötzlich schubst Emil die kleine Lisa vom Stuhl. Sie weint! Andrea bekommt Schnappatmung und wird innerlich richtig wütend!“[1]

Wie können wir solche Gefühle begleiten? Aus meiner Sicht ist eines der ersten und wichtigsten Schritte, dass diese genauso sein dürfen wie andere Gefühle auch. Die Akzeptanz verhilft uns zu mehr Gelassenheit, verbunden mit der Frage: Was bewegt das Kind? Was möchte es gerade zum Ausdruck bringen?

Spüre ich, dass mich die Wut eines Kindes mitzureißen droht, sollte immer der erste Schritt sein: kurz innehalten, die eigene Stopp-Taste drücken und mich selbst regulieren. Ähnlich wie im Flugzeug ist es wichtig, dass wir zuerst an uns denken, uns versorgen, um dann dem Kind zur Seite stehen zu können. Daher gilt der wichtige Grundsatz: „Selbstregulation vor Co-Regulation!“ und auch „Ich kann mich nur gut um andere kümmern, wenn es mir selbst gut geht!“

Andrea atmet bewusst tief ein und aus. Sie beruhigt sich selbst und wendet sich um Anschluss Emil und Lisa zu. Sie beruhigt beide Kinder und hilft Lisa zurück auf ihren Stuhl. Emil teilt sie sachlich mit, dass sie gern mit ihm nach dem Kreis in Ruhe noch einmal sprechen wird.

In Deinem Ansatz steht die Bedürfnisorientierung im Vordergrund. Inwieweit könnte das mit den Erwartungen an ein soziales Miteinander in Widerspruch geraten?

Der Widerspruch oder die Sorge, mit der wir öfter konfrontiert werden, ist, dass Kinder, die all ihre Bedürfnisse erfüllt bekommen, egozentrisch handeln und nicht im Sinne der Gruppe sozialisiert werden. Sätze wie: „Wenn ich bedürfnisorientiert begleite, tanzen die Kinder mir auf der Nase herum!“ zeigen ganz deutlich, dass hier ein großes Missverständnis vorliegt. Kinder sind wundervoll und einzigartig und es ist an uns, dies zu erkennen und sie verantwortungsvoll zu führen. Mit der Bedürfnisorientierung ist nicht gemeint, dass wir den Kindern all ihre Bedürfnisse und Wünsche von den Lippen ablesen und diese prompt erfüllen. Es geht darum, dass wir uns für sie und ihre Belange interessieren, uns ihnen zuwenden, präsent sind und in echtem Kontakt und Austausch mit ihnen treten.

Wichtig ist es hier auch zu unterscheiden, ob es sich um ein echtes Bedürfnis handelt (wie Körperkontakt, Bindung, Selbstbestimmung) oder um einen Wunsch (nach einem bestimmten Spielzeug oder Süßem). Bedürfnisse streben danach erfüllt zu werden und insbesondere jüngere Kinder sind auf uns und die Erfüllung angewiesen. Sie können diese wichtigen Bedürfnisse nicht zurückstellen oder sich gar selbst erfüllen. Schlagen wir hingegen einen Wunsch aus, so löst dies beim Kind verständlicherweise Frustration aus, die sein darf und Begleitung unsererseits benötigt. Kinder können mit der Zeit und in liebevoller Begleitung den Bedürfnisaufschub und ihre Frustrationstoleranz üben. Sie lernen dies mit uns! Und ebenso wichtig ist es ihnen auch unsere Gefühle, Bedürfnisse und Grenzen aufzuzeigen. In der Bedürfnisorientierung sind alle gleichermaßen bedeutsam und ein jeder Mensch möchte und sollte gesehen werden. Dies führt selbstverständlich auch zu Reibungen und Konflikten – das ist völlig normal. Das macht aber die soziale Entwicklung aus: einander kennenlernen, die Verschiedenheiten zu erfahren und diese nicht als Ablehnung zu verstehen. So üben wir gegenseitigen Respekt und Empathie und daher bin ich fest überzeugt: Bedürfnisorientierung unterstützt das soziale Miteinander!

Was hat Dich dazu motiviert, ein Online-Magazin für Eltern und pädagogische Fachkräfte zu entwickeln/veröffentlichen und wie kam es zu dem Titel „Kindheit erleben“?

Ehrlich gesagt ist die Idee in einem Gespräch mit meinem Mann entstanden, da ich als Kindheitspädagogin, Kitaleiterin, Fortbildnerin und Mutter immer im Privaten so viel über meine Visionen gesprochen habe, die unter anderem sagt: „Wenn ich in Rente gehe, dann möchte ich, dass die Pädagogik vollkommen straffrei ist“. Im Urlaub sagte er dann plötzlich: „Kannst du deine ganzen Gedanken nicht aufschreiben, damit es auch andere erfahren?“ Aus dieser spontanen Idee entstand dann der Blog „Kindheit erleben“ und ich mochte das Wortspiel, welches sich darin versteckt: Kind heiter leben, also mit Kindern heiter leben. Kurz darauf schrieb ich meine Master-Arbeit darüber, wie Fachkräfte mit kindlichen Aggressionen umgehen und mir wurde bewusst, wie schwer es vielen fällt Kinder in herausfordernden Momenten gewaltfrei und achtsam zu begleiten. Mein Online-Magazin wurde geboren und zu meiner Freude folgten schnell Fachartikel in diversen Portalen. Die Themen bewegen viele Fachkräfte und Familien!

Wie bist Du zu den Reckahner Reflexionen gekommen?

Das ist in der Tat eine spannende Frage: Ich schreibe seit Langem für pädagogische Fachkräfte darüber, wie diese achtsam und gewaltfrei Kinder in der pädagogischen Praxis begleiten können. So veröffentlichte ich beispielsweise auch Artikel über die Verhaltensampel, die nach wie vor in Kitas und Schulen als Instrument zur Verhaltensregulierung eingesetzt wird. Vermutlich aus Unwissenheit und Überforderung einiger Fachkräfte. Durch dieses Thema bin ich über einen Artikel zum Ampelsystem von Martina Hehn-Oldiges und Britta Ostermann auf die Reckahner Reflexionen aufmerksam geworden. Diese Leitlinien fassen so treffend zusammen, was in der pädagogischen Praxis noch vielerorts eine sehr freie Auslegung findet. Trotz des Kinderschutzgesetzes ist für viele Fachkräfte noch nicht eindeutig, wo sie die Schwelle zu einer gewaltvollen, adultistischen Erziehung übertreten. Strafen werden als Erziehungsmethode ausgelegt und das Kind „Sei doch selbst schuld, wenn es …“ Es fehlte bisher schlichtweg eine Berufsethik, nach der sich alle Fachkräfte verbindlich richten müssen – zum Schutze der Kinder.

Die Leitlinien zur Ethik pädagogischer Beziehungen geben nun eine solche Richtung vor und werden daher seitdem von mir in meinen Veröffentlichungen und Seminaren verbreitet. Einen Podcast in der Reihe „Auf die ersten Jahre kommt es an“ des nifbe (Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Erziehung) konnte ich dazu nutzen, um in einer Folge zu „Kinderrechten in Krippe und Kita“ über die Inhalte und die Entstehung der Leitlinien zu informieren. Der Name „Reckahner Reflexionen“ hinterließ bei mir viele Fragezeichen, sodass auch dies im Podcast besprochen wurde.

An welchen Orten entstehen Deine Fachtexte und Fachbücher?

Ich veröffentliche seit einigen Jahren in diversen Fachzeitungen für pädagogische Fachkräfte, schreibe im Blog, interviewe Menschen für Podcasts („Auf die ersten Jahre kommt es an“ & „Kindheit erleben“) und durfte in den letzten eineinhalb Jahren drei Bücher schreiben. Und all das tue ich entweder in Brandenburg oder in Valencia – in beiden Orten bin ich zu Hause.

Kurzinfo zur Person

Kathrin Hohmann hat Erziehung und Bildung (BA) und Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Familie (MA) studiert. Sie arbeitet im In- und Ausland als Kitaleiterin, Kindheitspädagogin und leitet Workshops für Eltern und pädagogische Fachkräfte. Sie promoviert in Psychologie an der Universität Valencia/Würzburg. 2021 veröffentlichte sie folgende Bücher: „Gemeinsam durch die Wut– Wie ein achtsamer Umgang mit kindlichen Aggressionen die Beziehung stärkt“ und zusammen mit Lea Wedewardt „Kinder achtsam und bedürfnisorientiert begleiten“. Im Sommer 2022 erscheint ein weiteres Buch zum Thema „Strafen“.

Link zum Online-Magazin „Kindheit erleben


[1] Leseprobe, S. 16 aus „Gemeinsam durch die Wut“