Beziehungsgestaltung im Kontext Pädagogischer Diagnostik
Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel
(Ursula Carle, November 2024)
Einleitung
Kinder sind von sich aus neugierig, lernbegierig, vielfältig interessiert und können auf die Erfahrung aus ihren unterschiedlichen Lebensgeschichten zurückgreifen. Wenn das Kind seine Potenziale erkennt und sie erfolgreich in die Arbeit der Kindergruppe einbringen kann, erfährt es seine Wirksamkeit auf doppelte Weise – durch den Erfolg der gemeinsam geschaffenen Sache und durch die Beziehung zu den Kindern und Erwachsenen. Welch ein Schatz für eigene Lernzugänge ist das gemeinsame Lernen in einer heterogenen Lerngemeinschaft! Diesen Schatz zu heben und Möglichkeiten zu eröffnen, wie er ausgebaut werden kann, ist die vorderste Aufgabe des Unterrichts. Stress, Über- und Unterforderung, verletzendes Verhalten und Missachtung der Interessen des Kindes oder gar Ausschluss aus seiner Kindergruppe, sind demgegenüber geeignet Lernprozesse des Kindes empfindlich zu behindern. Die Basis des Lernens sind sichere Beziehungen, in denen sich Kinder herausgefordert und zugleich unterstützt sehen. Unterrichten ist somit Handeln in Beziehungen. Dem Erfahrungsschatz und den Interessen der Kinder auf die Spur zu kommen, Lernmöglichkeiten aber auch Störungen von Lernen und von Beziehungen frühzeitig zu erkennen, dabei hilft Pädagogische Diagnostik.
Warum sind Beziehungen für die Pädagogische Diagnostik relevant?
Mehr Transparenz in die individuellen und sozialen Lernprozesse in der Kindergruppe zu bringen ist grundlegend für pädagogisches Handeln. Im Idealfall erhält die Pädagogische Fachkraft durch Beobachtung und Gespräche mit den Kindern über deren Arbeit an Aufgaben oder frei gewählten Vorhaben einen besseren Einblick in ihre Lerngründe und Lernwege im Kontext der sozialen Lerndynamik in der Kindergruppe. Pädagogische Diagnostik geht darüber hinaus. Die Beobachtung ist bewusst zielgerichtet, orientiert an diagnostischen Fragen. Das Ergebnis wird protokolliert und im Team diskutiert, um eine fachlich fundierte Auswertung des Beobachteten zu ermöglichen. Zwar lassen sich daraus nicht unmittelbar Verbesserungen der Unterrichtsqualität ableiten. In Konfrontation der Auswertung mit der pädagogischen Erfahrung und dem professionellen Hintergrundwissen der Pädagogischen Fachkräfte könnten sich z.B. Impulse ergeben für die Raumgestaltung, für Art und Schwierigkeitsgrad von Aufgaben, für facettenreiches anregendes Material und für Methoden zur Mitverfolgung des Lernfortschrittes des Kindes und der Gruppe.
Der gesamte Prozess ist zwischen Lehrperson und Kind wie auch im Team nur kooperativ möglich. Ist doch pädagogische Diagnostik darauf angewiesen, dass die beteiligten Personen sich öffnen und einen Einblick in die Lernverhältnisse und die eigenen Einschätzungen ermöglichen. Schließlich können auch die abgeleiteten Konsequenzen nur kooperativ, zusammen mit dem Kind und der Kindergruppe umgesetzt werden. So kann z.B. Unterrichtsqualität nur mit den Kindern verbessert werden. Für gelingende Kommunikation und Kooperation ist die Beziehungsebene von grundlegender Bedeutung. Gelingt keine vertrauensvolle von Achtung und Anerkennung getragene Beziehung, lassen auch diagnostisches Fragen und sogar ausgefeilte diagnostische Methoden und Instrumente nur einen wenig aufschlussreichen Blick von außen zu.
Gerade das Vertrauen wird jedoch ständig durch die Auslesefunktion und Benotungsvorgaben des Schulsystems unter Druck gesetzt. Das Kind lernt im ungünstigen Fall nicht mehr aus Interesse an der Sache, sondern um der Noten willen. Holzkamp würde aus der Perspektive der kritischen Psychologie dazu sagen, das Kind hat dann defensive Lerngründe und kaum expansive (Holzkamp 1993, S. 191). Beugt sich die Lehrperson dem Auslesedruck, wird dadurch auch die Beziehung zum Kind und häufig in der Folge auch zu den Eltern beeinträchtigt. Der gemeinsame Fokus von Lehrperson und Kind verkürzt sich von der interessanten Sache, von der herausfordernden Problemlösung in einem Projekt, von gemeinsamen spannenden Entdeckungen beim Mathematiklernen auf die Frage, welche Note bekommt das Kind. Leistungsbewertung als ein Teil des diagnostischen Prozesses wird im Extremfall reduziert auf notenrelevante Leistung und durch die enorme Bedeutung rechtsfester Noten völlig überbewertet. Das Kind vergleicht seine Noten mit den Noten anderer Kinder, aber auch mit eigenen früheren Noten oder Noten in einem anderen Fach und ordnet sich ein. Auf der Basis einer guten Beziehung zum Kind kann es der Lehrperson in diesem Vergleichsprozess gelingen, im Gespräch den Fokus von der sozialen hin zur kriterialen und vor allem zur individuellen Bezugsnorm zu lenken.
Festzuhalten ist: Eine vertrauensvolle, achtsame und anerkennende pädagogische Beziehung mit dem Kind ist die grundlegende Voraussetzung für Pädagogische Diagnostik.
Angedeutet wurde bereits, dass es sich jedoch im Unterricht nicht um eine isolierte Eins-zu-Eins-Beziehung (Lehrperson-Kind) handelt, ebenso wenig wie Pädagogische Diagnostik ohne Berücksichtigung des Kontextes auskommt und Lernen ohne Inhalt. Vielmehr entsteht im Unterricht im besten Fall ein förderliches Beziehungsgefüge zwischen den Kindern und den beteiligten Erwachsenen mit einer Fokussierung auf gemeinsame Lerninhalte und mit den verschiedenen individuellen Bezügen dazu. Um den Versuchungen einer Reduktion auf leicht zu benotenden Schulstoff vorzubeugen, braucht es eine vertrauensvolle, wertschätzende und neugierige Lerngemeinschaft aller Beteiligten, die stark genug ist, um gemeinsam auch schwierige und widersprüchliche Anforderungen zu bewältigen. Solche vertrauensvollen Beziehungen entstehen nicht ad hoc, sondern müssen aufgebaut und gepflegt werden.
Eingrenzung des Begriffs Pädagogische Diagnostik
Pädagogische Diagnostik ist gewissermaßen ein Oberbegriff, der für alle diagnostischen Handlungen im pädagogischen Kontext steht. Im Unterschied zur Psychologischen Diagnostik ist sie in der Schule inhärenter Bestandteil des pädagogischen Handelns. Pädagogische Diagnostik ist in einer langfristigen, mittelfristigen und kurzfristigen Planungsperspektive ebenso wie während des Unterrichts ein fest verankerter Bestandteil. Ohne pädagogische Diagnostik ist adaptiver, an die Lernvoraussetzungen der Kinder angepasster und somit für ihre Zugänge und ihre eigenen Aufgabendefinitionen geöffneter Unterricht nicht möglich. Umgekehrt verdient nur eine Diagnostik, die grundsätzlich pädagogisch legitimierbar ist, den Namen Pädagogische Diagnostik. Diagnostisches Vorgehen, das dazu dient, Kinder auszusortieren, in Rangreihen zu bringen, ihnen Eigenschaften anzuheften oder Kinder unter medizinischer, psychologischer oder forschungsbezogener Fragestellung zu untersuchen, gehört somit nicht zur Pädagogischen Diagnostik. Verfolgt doch Pädagogische Diagnostik immer Fragestellungen, die ausschließlich der pädagogischen Erschließung erweiterter Möglichkeitsräume der Kinder dienen. Bereits die Formulierung dieser Fragestellungen setzt eine Zusammenarbeit zwischen den Kindern und der Pädagogischen Fachkraft voraus.
Grundmuster pädagogisch-diagnostischen Fragens
Die unmittelbar in den Unterricht eingelassene auf die Lerninhalte bezogene Diagnostik beschreibt Annedore Prengel so: „Die didaktische Diagnostik, die sehr nah am alltäglichen Lernen die Lernfortschritte der Kinder erfasst, hat ihre Stärke darin, dass sie mit den im Unterricht sichtbaren »kriterialen«, also sachlich-fachlichen Lerninhalten arbeitet. Sie ist eine unmittelbar mit der Didaktik verbundene Form der Diagnostik und sie beruht auf der ureigensten fachdidaktischen Kompetenz der Lehrkräfte. Ihr besonderes Potential ist, dass sie eine Spaltung zwischen Diagnostik, pädagogischem Handeln und Lernhandeln erst gar nicht entstehen lässt, sondern kontinuierlich und unmittelbar die nächsten Lernaktivitäten der Kinder mit sich bringt.“ (Prengel 2013, S. 51). Annedore Prengel benennt einen Kreis elementarer diagnostisch relevanter Fragestellungen, die einem Qualitätszirkel ähnlich sind, aus Kindersicht:
- Was kann ich jetzt?
- Was ist mein Ziel?
- Was ist mein nächster Lernschritt auf dem Weg zum Ziel?
- Welche Hilfsmittel und Unterstützung brauche ich für diesen Lernschritt?
- Nach dem Lernen setzt auf neuem Niveau wieder die 1. Frage ein: Was kann ich jetzt?“ (ebd. S. 50, siehe auch das REMI-Projekt unter www.inklusive-didaktik.de )
Auf lange Sicht sollte Pädagogische Diagnostik die Lerngemeinschaft – und nicht nur einzelne Subjekte des Lerngeschehens – in die Lage versetzen, den eigenen Entwicklungsprozess einzuschätzen und daraus nächste Ziele, nun für die längerfristige Perspektive, zu formulieren. Das setzt nicht nur eine enge Kooperation voraus, sondern auch eine abgestimmte Dokumentation, die den zurückliegenden Prozess nachvollziehbar und gemeinsam reflektierbar werden lässt. Ein Beispiel wäre die Arbeit mit Lernlandkarten als Leitlinie und Dokumentationsmittel für die Kinder und als eine Basis, um sich in der Lerngruppe und mit den Erwachsenen über den längerfristigen Lernweg zu verständigen. Damit solche Lerngespräche überhaupt mit jedem Kind stattfinden können, muss dafür ein Zeitgefäß vorgesehen werden, z.B. täglich während des offenen Anfangs. Alle Kinder werden abwechselnd dazu persönlich eingeladen. Die fünf oben zitierten Fragen helfen im Lerngespräch. Sie können für jeden Planungshorizont Erkenntnisse ermöglichen.
Ebenfalls unmittelbar im schulischen Alltag ergeben sich diagnostische Fragestellungen aus sozialen Konflikten heraus, aus sich häufenden Gefahrensituationen oder anderen Problemlagen u.v.m., die in Schule und Unterricht nie ein Kind alleine betreffen. In allen Fällen sind nicht nur die Kinder Lernende, sondern immer auch die Erwachsenen.
Differenzierung des diagnostischen Blicks auf die persönlichen Lernumstände
Diagnostische Situationen können auch während des Unterrichts nebenbei entstehen. Das Grundmuster der diagnostischen Fragen ist in solchen Situationen eine wichtige Leitlinie. Unbestritten ist außerdem, dass jede Aufgabe auch diagnostisches Potenzial hat. Nehmen wir an, die Lehrperson hat für die Kinder eine Stationenarbeit zum Thema „Geschichten lesen und spielen“ vorbereitet. Im Rahmen ihrer Beobachtung der Lernprozesse der Kinder möchte sie herausfinden, welche Fortschritte einige Kinder gegenüber einer ähnlichen Aufgabensituation vor einer Woche gemacht haben. Welche Erfahrungen haben sie in die aktuelle Situation mitgenommen? Es geht also nicht nur um die Grundfrage „Was kann das Kind jetzt?“, sondern darüber hinaus auch um einen längerfristigen anschlussfähigen Lernprozess und dabei ob das Kind Erkenntnisse aus dem Unterricht vor einer Woche aktivieren kann und welche.
Um ihre Lernangebote zu verbessern, muss die Lehrperson auch deren Wirkung auf den längerfristigen Lernweg der Kinder beachten. Sie wird also darauf schauen, wo etwas nicht geklappt hat: Welchen Grund hat das Kind, dass es bestimmte Erkenntnisse aus der zurückliegenden Unterrichtsstunde nicht anwendet? Warum stellt es aus zurückliegenden Lerneinheiten keine geeignete Verbindung zu der aktuellen Aufgabe her? Möglicherweise kann das Kind diese Fragen selbst nicht beantworten. Die Lehrperson wird sich die Frage stellen, warum ihr Unterrichtsangebot vor einer Woche das Kind nicht erreicht hat und wie sie das Kind künftig besser erreichen kann. Dafür kann sie das Kind – besser: die Kindergruppe – bitten ihr zu helfen, den Unterricht so zu gestalten, dass die Kinder sich besser an zurückliegend Gelerntes erinnern können. Erst wenn auch die persönlichen Umstände des Lernprozesses des Kindes – der unterschiedlichen Kinder der Lerngruppe – mitberücksichtigt werden, lassen sich daraus Schlüsse für nächste Schritte der (differenzierten) Unterrichtsplanung ableiten.
Damit ihr kein Kind entgeht, achtet die Lehrperson im pädagogisch-diagnostischen Prozess darauf innerhalb eines bestimmten Zyklus jedes Kind einmal genauer beobachtet zu haben. Eine relativ offene Lernsituation gibt außerdem Hinweise auf sich längerfristig entwickelnde Kompetenzaspekte des Leselernprozesses des Kindes und die Entwicklung exekutiver Funktionen (z.B. Steuerung von Aufmerksamkeit, Emotionen und Verhalten), die in komplexen Handlungssituationen besonders bedeutsam sind für den Handlungserfolg. Darüber hinaus können die Handlungsstrategien sowohl in Bezug auf die Aufgabe als auch auf die Kooperation beobachtet werden.
Fazit: Beziehungsgestaltung und diagnostische Prozesse
Diagnostische Prozesse sind auf eine gute, d. h. vertrauensvolle, achtsame und wertschätzende Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen und im pädagogischen Team unmittelbar angewiesen. Anders ist die nötige Offenheit nicht gegeben, um insbesondere die persönlichen Bedingungen des Lernprozesses zu erfahren. Diese sind nötig, um die individuellen Persönlichkeiten der Lerngemeinschaft im Unterricht einzubeziehen und dafür differenzierte adaptive Lernangebote zu gestalten. Die gute Beziehungsgestaltung ist aber nicht voraussetzungslos, sondern auf ein Unterrichtsgefüge angewiesen, das für Beziehungspflege Zeit und Raum bietet. Sie verlangt von der Lehrperson außerdem, dass sie die Integration der Kindergruppe zur Lerngemeinschaft offensiv voranbringt. Werthaltungen, die dafür grundlegend sind, stehen mit den Leitlinien der Reckahner Reflexionen zur Verfügung.
Literatur
Holzkamp, Klaus: Lernen, subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt a. M.: Campus 1993.
Prengel, Annedore: Inklusive Bildung in der Primarstufe. Eine wissenschaftliche Expertise des Grundschulverbandes. Frankfurt am Main: Grundschulverband e.V. 2013, 69 S. – URN: urn:nbn:de:0111-pedocs-188272 – DOI: 10.25656/01:18827
Bezüge zu Annedore Prengel
Als ich Annedore Prengels frisch erschienenes Buch „Pädagogik der Vielfalt“ 1993 im Zug von Braunschweig nach Heidelberg mit Begeisterung gelesen hatte, wollte ich diese Frau unbedingt persönlich kennenlernen. Das gelang mir in der Arbeitsgruppe Grundschulforschung der DGfE. Annedore Prengel war 1999 externe Gutachterin in meinem Habilitationsverfahren. Seither verbindet uns eine verlässliche fachliche Freundschaft.