Das Praktikum in der Schule – ein ambivalentes Feld für Lehramtsstudierende
(Stefanie Bosse und Jennifer Lambrecht, Februar 2024)
In der Lehramtsausbildung wird den Praxisphasen eine hohe Bedeutung beigemessen. Dort hospitieren Studierende in der Schule und lernen dabei, wie Lehrkräfte professionell im Unterricht agieren. Der folgende Beitrag widmet sich den Fragen: Welche pädagogischen Situationen erachten Studierende im ersten Praktikum als relevant? Erleben sie verletzende Lehrkräfte und oder anerkennende pädagogische Fachkräfte und kann man die Situationen mit Hilfe der Reckahner Reflexionen beurteilen?
Viele pädagogische Situationen laufen in der Schulpraxis sehr wertschätzend und anerkennend ab. Gleichwohl muss über die Situationen gesprochen werden, in denen Kinder durch Lehrkräfte verletzt werden. Studierende, die verletzende Lehrkräfte beobachten, wissen oft nicht, wie sie damit umgehen sollen. Der vorliegende Beitrag thematisiert daher die Notwendigkeit, Studierende auf die Erfahrungen im Praktikum vorzubereiten und im Anschluss an das Praktikum gemeinsam nachzubereiten.
Pädagogische Beziehungen in Theorie und Empirie
Im Schulalltag entstehen zwischen Lehrkräften und Lernenden pädagogische Beziehungen. Diese sind asymmetrisch und finden darüber hinaus im Kontext einer bezahlten Tätigkeit statt (Prengel, 2020; Scherzinger & Wettstein, 2022). Lehrkräfte unterrichten täglich viele Kinder, so dass sie „eine gewisse emotionale Distanz“ (Böhle et al., 2012, S. 187) zeigen (müssen). Gleichzeitig haben Lehrkräfte insbesondere durch ihre Position eine professionelle Verantwortung zur Gestaltung tragfähiger pädagogischer Beziehungen.
Aus der Forschung ist bekannt, dass anerkennende und positive pädagogische Beziehungen sehr bedeutsam für gelingende Bildungs- und Lebensverläufe der Kinder und Jugendlichen sind (Hattie, 2021; Prengel, 2020). Im Forschungsprojekt „Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern“ (INTAKT) wurde deutlich, dass ungefähr dreiviertel der Interaktionen als anerkennend oder neutral kategorisiert werden können; ca. jede fünfte Situation jedoch wurde als verletzend eingestuft (Prengel, Tellisch, Wohne & Zapf, 2016). In den INTAKT-Untersuchungen haben Studierende die Beobachtungen vorgenommen. Lehramtsstudierende nehmen verletzende Interaktionen durchaus sensibel wahr und sie kennen theoretisch auch Handlungsmöglichkeiten. Sie bewerten diese sogar höher, nachdem sie die Reckahner Reflexionen kennengelernt haben (Lambrecht & Bosse, 2019).
Praktikumserfahrungen zu Beginn des Lehramtsstudiums
In einer Untersuchung wurden Studierende des Lehramts Primarstufe, die größtenteils im zweiten Bachelorsemester waren, darum gebeten, pädagogische Situationen zu beschreiben, die sie in ihrem Hospitationspraktikum als relevant erachtet haben (Bosse, Lambrecht & Prengel, 2023). Die Auswertung der 194 Situationen ergab, dass 45 als anerkennend, 3 als neutral und 39 als verletzend eingestuft wurden. Der weit überwiegende Teil, 107 Situationen, fiel in die Kategorie schwer einzuschätzen. Es ist erfreulich, dass den Studierenden zahlreiche positive bzw. anerkennende Interaktionen als relevant und damit berichtenswert erschienen. Ein Beispiel war das folgende:
„Des Weiteren konnte ich beobachten, dass eine Schülerin der 1. Klasse im Verlaufe des Unterrichtsgeschehens zu weinen begann. Die Lehrkraft unterbrach sofort ihren Unterricht, um dem Mädchen Trost und Aufmerksamkeit zu schenken. Das Mädchen wollte nachhause zu ihren Eltern. Frau L. sprach ihr motivierende Worte zu und erklärte, dass der Tag bald vorbei sei und sie dann nachhause zu ihren Eltern könne. Außerdem gab sie dem Mädchen das Klassenmaskottchen an den Platz, welches auf sie aufpassen sollte und setzte ihren Unterricht fort. Nach der Stunde bat sie das Mädchen noch einmal zu sich, um genauer zu erfragen, ob es bei ihr zu Hause Probleme gäbe oder anderweitige Gründe, worüber sie reden möchte.“ (Auszug aus einem Praktikumsbericht).
Diese Situation passt insbesondere zur Leitlinie 5 der Reckahner Reflexionen, die aussagt, dass Lehrkräfte auf die Nöte und den Kummer von Kindern und Jugendlichen achten sollen. Die Lehrkraft aus dem Praktikumsbericht hat sich demnach sehr wertschätzend verhalten.
Ein Beispiel für eine schwer einzuschätzende Situation war die Folgende:
„So zeigte ein Junge einer 6. Klasse starke Verhaltensauffälligkeiten. Meine Mentorin machte sich Sorgen und sprach dies an. Der Junge solle sich bei der Sozialarbeiterin melden, dass alle wissen, wie sie ihm helfen könnten. Allerdings tat sie dies vor der gesamten Klasse, womit sie ihn dann bloßstellte. Sie sagte zu ihm: „Irgendetwas ist im Argen. Deine Hormone spielen verrückt. Du bist mir nicht egal. Ich mach mir Sorgen.“ (Auszug aus einem Praktikumsbericht).
Die geschilderte Situation enthält sowohl anerkennende Aspekte, denn das Kind wurde mit seinen Nöten gesehen (Leitlinie 5) und die Mentorin drückt dem Kind gegenüber aus, dass es ihm wichtig sei. Andererseits kann das Äußern der Sorgen vor der Klasse bloßstellend sein, womit die Mentorin Leitlinie 7 verletzt.
Auffällig sind die 39 verletzenden Situationen. Größtenteils wurden darin Beschämungen und Demütigungen einzelner Kinder geschildert. Es folgen drei Beispiele:
„Ein weiteres problematisches Lehrkräfteverhalten musste ich in einer Stunde im
Deutschunterricht feststellen. Hier erklärte Frau S. den Kindern, was sie unter einer ordentlichen Hefterführung versteht. Dazu zeigt sie allerdings den Hefter eines Kindes hoch, um zu zeigen, wie man es nicht machen soll. Auch wenn sie nicht den Namen des betroffenen Kindes nennt, lachen alle Kinder darüber und es wird dadurch indirekt vor der ganzen Klasse gedemütigt.“ (Auszug aus einem Praktikumsbericht).
Die Lehrkraft demütigt das Kind (Leitlinie 7) und kommentiert die Hefterführung entwertend (Leitlinie 8). Dass diese beiden Leitlinien von besonderer Relevanz sind, zeigen auch die nachfolgenden Beispiele aus zwei unterschiedlichen Schulen:
„Die Sonderpädagogin fordert ein Kind auf zu antworten, welches sich gemeldet hat. Die Schülerin macht den Eindruck, die Antwort nicht zu kennen. Nach mehrmaligem Auffordern greift die Sonderpädagogin die Schülerin an den Schultern und zieht sie vor die Tafel.“ (Auszug aus einem Praktikumsbericht).
„Frau R. spielte für die Klasse 2a ein Hörspiel ab, bei dem die Kinder zuvor ihren Schal oder ihre Mütze zu ihrem Platz nehmen durften, um ihren Kopf währenddessen darauf abzulegen. Ein Junge zog sich jedoch seine Mütze ins Gesicht und drehte sich zu einem Mitschüler um. Als die Lehrerin dies sah, ging sie mit schnellem Schritt auf den Jungen zu, ermahnte ihn mit lauter Stimme und griff seinen Arm, damit er sich umdrehte. Das Hörspiel lief weiter und alle Kinder hörten ihm ruhig mit geschlossenen Augen zu. Ein Junge der letzten Reihe schloss sich jedoch nicht diesem Verhalten an, sondern wurde sehr zappelig und legte sich auf den Boden. Frau R. ermahnte ihn daraufhin und als nicht ihre gewünschte Reaktion beim Jungen eintrat, forderte sie ihn dazu auf, sich bei geöffneter Tür in den Schulflur zu stellen. Nachdem er ihrer Anweisung folgte, rief sie ihn nach ca. zwei Minuten wieder in den Raum und er solle sich an seinen Platz setzen. Nun verhielt sich das Kind erneut unruhig und spielte an seinem Hefter herum. Frau R. lief daraufhin zügig auf ihn zu, nahm seine Mappe und schüttete deren Inhalt vollständig auf seinen Tisch aus. Jetzt sollte er sich wieder in den Flur stellen und im Anschluss seine Mappe ordentlich einsortieren.“ (Auszug aus einem Praktikumsbericht).
Die Frage, die sich nun aufdrängt, lautet: Hätten die Studierenden in den Situationen eingreifen sollen? In allen 39 als verletzend eingestuften Situationen wurde nicht mit den Lehrkräften über das Verhalten gesprochen. Dies kann viele Gründe haben. In jedem Fall ist es ein Hinweis auf ein Tabu-Thema: Das Ansprechen von Verhalten einer ranghöheren Person gegenüber ihr anvertrauten Kindern durch eine Praktikantin oder einen Praktikanten.
Schlussfolgerungen für alle Beteiligten
Welche Schlussfolgerungen sind nun zu ziehen? Die erste Antwort richtet sich an die Universitäten, die zweite an die Schulen und die dritte schließlich an beide Einrichtungen.
(1) Es erscheint zwingend notwendig, dass im Lehramtsstudium über verletzende, aber auch über anerkennende pädagogische Beziehungen gesprochen wird. Die Reckahner Reflexionen bieten hierfür eine hervorragende Grundlage. Darüber hinaus müssen Lehramtsstudierende unbedingt bestärkt werden über Demütigungen und Beschämungen von Kindern und Jugendlichen in Schulen nicht hinwegzusehen, sondern sie anzusprechen. Auch wenn dazu Mut gehört, muss klar sein, dass es einerseits dem Schutz der Kinder und Jugendlichen dient und andererseits für das eigene pädagogische Selbstverständnis außerordentlich bedeutsam ist. In Rollenspielen im geschützten Seminarkontext könnte eine Simulation bestärkend wirken.
(2) Die Schulen müssen sich auf die Bedürfnisse und Fragen der Studierenden vorbereiten und sie auf Augenhöhe ansprechen. Vertrauenslehrkräfte könnten als Ansprechpersonen für die Studierenden fungieren. Bestenfalls sind die Reckahner Reflexionen auch in den Schulen eine bekannte und gelebte Praxis.
(3) Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen muss ausgeweitet und Grundsätze der Praktikumsbetreuung erarbeitet werden, so dass beide Institutionen profitieren und die Kooperation als förderlich empfinden. Dazu sollten Erwartungen und Anforderungen auf beiden Seiten transparent formuliert und in Kooperationsvereinbarungen verschriftlicht werden.
Die Praxisphasen im Lehramtsstudium unterstützen die Studierenden maßgeblich auf dem über mehrere Jahre andauernden Weg zu professionellen Lehrkräften. Alle Beteiligten sollten sich dieser Verantwortung bewusst sein.
Autorinnen
- Dr. Stefanie Bosse, Universität Potsdam, Department Grundschulpädagogik, stbosse@uni-potsdam.de
- Dr. Jennifer Lambrecht, KiTeAro, Institut für Bildung, Forschung und Entwicklung in der Pädagogik, Berlin & freiberufliche Referentin zu den Reckahner Reflexionen und kinderrechtsbasierte Qualitätsentwicklung in pädagogischen Institutionen, jennifer.lambrecht@paedagogische-beziehungen.eu
Literatur
- Böhle, A., Grosse, M., Schrödter, M. & van den Berg, W. (2012). Beziehungsarbeit unter den Bedingungen von Freiwilligkeit und Zwang. Soziale Passagen, 4(2), 183–202. https://doi.org/10.1007/s12592-012-0117-z
- Bosse, S., Lambrecht, J. & Prengel, A. (2023). Du brauchst jetzt gar nicht anfangen zu weinen.” Welche Unterrichtssituationen nehmen Lehramtsstudierende der Primarstufe im Praktikum als relevant wahr? Posterpräsentation auf der Sektionstagung empirische Bildungsforschung der Arbeitsgruppe für Empirische Pädagogische Forschung (AEPF) in Potsdam.
- Hattie, J. (2021). Lernen sichtbar machen für Lehrpersonen (5., unveränderte Auflage). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren GmbH.
- Lambrecht, J. & Bosse, S. (2020). Lässt sich die Reflexionsfähigkeit von angehenden Lehrkräften verändern? Eine Studie zum Beitrag der Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen zur Lehrer_innenbildung. Herausforderung Lehrer*innenbildung. Zeitschrift zur Konzeption, Gestaltung und Diskussion, 3(2) 137-150. https://www.herausforderung-lehrerinnenbildung.de/index.php/hlz/article/view/2497
- Prengel, A. (2020). Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. (Pädagogik, 1. Auflage). Weinheim, Basel: Beltz.
- Prengel, A., Tellisch, C., Wohne, A. & Zapf, A. (2016). Lehrforschungsprojekte zur Qualität pädagogischer Beziehungen. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34 (2), S. 150-157. https://doi.org/10.25656/01:13936
- Scherzinger, M. & Wettstein, A. (2022). Beziehungen in der Schule gestalten. Für ein gelingendes Miteinander (1. Auflage). Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag.