Dialogisches Mentoring – ein Intensivbad in pädagogischen Beziehungen
(von Ines Boban & Andreas Hinz, November 2024)
Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel
Mittlerweile ist es ja fast eine Binsenweisheit, dass Beziehung die Voraussetzung für Erziehung ist. Das gilt zumal, wenn Erziehung versucht, wenig dominatorisch, sondern eher partnerschaftlich zu sein. Hierbei kann Dialogisches Mentoring eine inklusive Schlüsselfunktion haben – als eine intensive, tragende Form anerkennender pädagogischer Beziehungen (vgl. Prengel 2019). Daher setzen wir uns zunächst mit Mentoring allgemein auseinander, bevor wir auf die Spezifika Dialogischen Mentorings zu sprechen kommen.
Mentoring – ein ambivalentes Konzept
Mentoring hat Konjunktur (vgl. Matthiesen 2024). Während in Unternehmen, Hochschulen und Verwaltung schon länger Tendenzen bestehen, neue Kolleginnen und andere ‚Anfängerinnen‘ in ihrem Hineinwachsen und ihrer Funktionalität in ihre neue Rolle zu unterstützen, gilt dies seit einigen Jahren auch für Kinder und Jugendliche, vor allem in solchen Kontexten, in denen soziale Benachteiligungen bestimmend sind (vgl. Jakob & Schüler 2024). Dabei scheint es eine ähnliche Ambivalenz der „positiven Diskriminierung“ (Czock & Radtke 1984) bei kompensatorischen Förderansätzen zu geben: Einerseits ist ‚individuelle Förderung‘ wichtig, weil sie die Chancen des Kindes zu verbessern verspricht, andererseits wird es durch sie als defizitär und ‚förderbedürftig‘ markiert. So auch hier: Mentoring kann die Möglichkeiten einer Person verbessern und ihre Chancen erhöhen, es kann aber ebenso eine ‚Mentoringbedürftigkeit‘ zeigen – und überdies ihre Funktionalität im Sinne einer besseren Nutzung des Humankapitals erhöhen. So kann Mentoring in neoliberalen Systemen eher den Herrschaftsinteressen anderer und dem Funktionieren innerhalb einer Institution als der Person selbst dienen. Das hätte dann mit Anerkennung und Resonanz relativ wenig – oder bestenfalls indirekt – zu tun.
Vom ökonomisch oder auf Karrieren ausgerichteten Mentoring setzen sich Projekte ab, die „soziales Mentoring“ (Jakob & Schüler 2024) zum Programm erheben. Hier gibt es ein weites Feld von Initiativen, von Lesepatenschaften über das ‚Beibringen‘ von ‚altem deutschem Liedgut‘ bis zur Unterstützung des Übergangs von der Schule in die Berufstätigkeit, die sich in großen Teilen auf als sozial benachteiligt markierte Gruppen beziehen. Gemeinsam ist ihnen ebenfalls – oder vielleicht noch stärker – die o. g. Ambivalenz, wobei es naheliegt, die positiv-produktive Seite stärker zu betonen angesichts des geringen Erfolgs kompensatorischer Bemühungen seit mehreren Jahrzehnten (vgl. Prengel 1993, 26f.). Doch auch hier erscheint uns Anerkennung und Resonanz eher begrenzt, geht es doch darum, dass Erwachsene Kinder fördern, und damit ist nicht nur die grundlegende pädagogische Asymmetrie eingezogen, sondern auch eine (nicht nur funktionale) Hierarchie, die leicht adultistische Formen annehmen kann. Letztlich drohen auch hier Entscheidungen vor allem von den Erwachsenen getroffen zu werden, zumal bei Konzepten mit behavioristischen Grundlagen, denn bei ihnen ist eh klar, wer den Hut auf- und die Hosen anhat, wer also maßgeblich entscheidet – und „die Erfahrungen sind immer gut“, weil die Vorgehensweisen ‚passgenau‘ vom Programm vorgegeben sind (vgl. Guðjónsdóttir & Hinz 2024, 222).
Dialogisches Mentoring
Von den bisher geschilderten Ansätzen unterscheidet sich Dialogisches Mentoring (vgl. Boban & Hinz 2019) schon durch äußere Gegebenheiten: Kinder wählen sich ihren Mentorin, sie entscheiden über die Themen und sie behalten auch die Entscheidung über Entscheidungen in der Hand. Es ist sicher kein Zufall, dass es in demokratischen Schulen entwickelt wurde und auch international in sehr vielen realisiert wird.
Beim Dialogischen Mentoring geht es darum, dass Kinder und Jugendliche einen Menschen zur Verfügung haben, mit dem sie die Fragen besprechen, die sie selbst beschäftigen. Sie haben so die Chance, sich selbst und anderen sowie auch Situationen mehr auf die Spur zu kommen. Dabei ist es in vielen Situationen hilfreich, wenn bei der gemeinsamen Reflexion von Situationen auch die „Hinterbühne“ (vgl. Goffman 2003) beleuchtet wird. An einem Beispiel (vgl. Simri & Hinz 2021) illustriert: Ein Mädchen hat keine Lust mehr zum Hebräisch-Kurs (die Teilnamhe am Unterricht ist dort freiwillig). Selbstverständlich ist es legitim, ihn abzubrechen. Im Gespräch geht es vielmehr um die Frage, was hinter diesem Vorhaben steht, denn sie liebt es eigentlich zu schreiben – wozu sie dort viele Möglichkeiten hat. Wie sich im Lauf des Gesprächs herausstellt, hat sie den Eindruck, dass die Lehrerin des Kurses sie nicht mag, dass die Lehrerin sie auf jeden Fall nicht so wahrnimmt, dass sie sich wohlfühlen kann. Das Gespräch endet vorläufig mit der Überlegung, ob und wie sie diese Situation mit der Lehrerin ansprechen mag.
Das Mädchen reflektiert seine Unlust, und auf der Hinterbühne taucht die Frage nach Anerkennung bzw. nach dem Sich-Anerkannt-Fühlen-Können auf, die zu einer veränderten Sicht auf die Frage und zu erweiterten Möglichkeiten des Umgangs mit ihr führt – im Sinne eines kreativen Denkens über unterschiedlichste Optionen bei beiden Dialogpartnerinnen. Der Mentor stellt hierbei Fragen, die die weitere Erhellung des Themas ermöglichen – und sich gleichzeitig zu vergewissern, ob sie über diese Fragen auch nachdenken und sprechen möchte. Bei diesem Beispiel mag dies relativ undramatisch erscheinen, es bekommt bei anderen Themen andere Brisanz, wenn es etwa um die Verhältnisse zuhause, traumatische Erlebnisse etc. geht.
Herausforderungen für Mentorinnen
Die vielleicht schwierigste Herausforderung für Mentorinnen ist, jede Tendenz zu Dominanz und Manipulation zu vermeiden; gerade für Lehrerinnen kann dies problematisch sein, weil sie professionell zu führen gewohnt sind und dies von ihnen erwartet wird. Daher ist eine professionelle Qualifizierung für Mentoring notwendig (die auch im Institute for Democratic Education an einer Hochschule angeboten wird), und es ist auch die (selbst-)kritische Reflexion der Machtstrukturen notwendig – insbesondere für Mentor*innen, denn ihre Rolle kann Anteile von Coaching und Moderation, aber auch von Freundschaft, von Elternschaft und möglicherweise von Therapie enthalten (vgl. Boban, Simri & Zhang 2024). Aber sie ist all das nicht, sie bietet eher Folien für Projektionen an, mit denen es reflexiv umzugehen gilt. Und sie eröffnet – nicht automatisch, aber sehr wahrscheinlich – den Möglichkeitsraum für einen resonanten Beziehungsmodus, in dem wechselseitige Berührung und Transformation erfolgen kann (vgl. Hinz & Jerg 2024).
Spannungsfeld zu Funktionsweisen von Schule
Zudem steht Dialogisches Mentoring – das sich auf Martin Buber und Janusz Korczak bezieht, aber auch weitere theoretische Bezüge aufweist, etwa zur Anerkennungs- und zur Resonanz-Theorie – im Spannungsfeld zur dominierenden Agenda von Schule, zu Standards, dem Denken in Leveln und dem Aufsteigen in Stufensystemen, Rankings und letztlich allen administrativen Formen von Gruppenkategorien. Dass es in demokratischen Schulen quasi als Herz demokratischer Bildung praktiziert werden kann, ist keine Frage (vgl. Boban & Hinz 2019, 2024), kontrovers diskutiert wird dagegen, ob es auch in staatlichen Schulen mit ihrer wenig demokratischen Verfasstheit sinnvoll praktiziert werden kann. Während manche die Position vertreten, dies gehe gar nicht, sehen andere spezifischen Bedarf: ‚es geht dann, wenn gleichzeitig machtkritisch reflektiert wird, bis wohin eigene Entscheidungsspielräume reichen und wo sie enden‘. Wie bei allen menschenrechtsbasierten und demokratieorientierten Ansätzen gilt es auch hier, Kinder nicht durch vollmundige Partizipationsversprechen zu locken und letztlich so ihre Frustration zu verstärken, dass sie in einer hierarchisch dominierten Institution doch nicht wirklich (mit-)entscheiden können (vgl. Reitz 2020, 36, Hinz 2023).
Fazit
Aus unserer Sicht kann Dialogisches Mentoring ein Anstoß zu mehr Anerkennung und Resonanz im Umgang zwischen Kindern und Erwachsenen im pädagogischen Kontext sein. Es erscheint uns geradezu wie die Konkretisierung „egalitärer Differenz“ (vgl. Prengel 1993, 180) in der realen Welt von Kindern und Erwachsenen und ihren pädagogischen Beziehungen. Im inklusiven Kontext kann jedoch nur dann sinnvoll von Mentoring gesprochen werden, wenn das Dialogische mit ihm verbunden ist. Und es ist ein wunderbar widersprüchlicher Ansatz, der dazu auffordert, die eigene Rolle kritisch zu reflektieren und Kinder in ihren Fragen und Entscheidungen wahrzunehmen und zu unterstützen.
Literatur
Boban, Ines & Hinz, Andreas (2019): Mentoring in Demokratischen Schulen – Lernbegleitung ohne Hierarchie. In: Bartusch, Steffen; Klektau, Claudia; Puhr, Kirsten; Simon, Toni; Teumer, Stephanie & Weidermann, Anne (Hrsg.): Lernprozesse begleiten. Anforderungen an pädagogische Institutionen und ihre Akteurinnen. Wiesbaden: Springer, 89-104
Boban, Ines & Hinz, Andreas (2024): Inklusion und Demokratie – Das eine ohne das andere: weder inklusiv noch demokratisch!? In: Bosse, Ingo; Müller, Kathrin & Nussbaumer, Daniela (Hrsg.): Internationale und demokratische Perspektiven auf Inklusion und Chancengerechtigkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 341-349
Boban, Ines; Simri, Dror & Zhang, Linjie (2024): Inclusive Education and the Challenge of Mentoring through Dialogue – Reaching out to one another. Project „All means all” (i.p.)
Czock, Heidrun & Radtke, Frank-Olaf (1984): Der heimliche Lehrplan der Diskriminierung. Päd extra 12, H.10, 34-39
Goffman, Erving (2003): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper
Guðjónsdóttir, Hafdís & Hinz, Andreas (2024): Inklusive Pädagogik in Island zwischen Behaviorismus und Sozialkonstruktivismus. In: Hinz, Andreas; Jörgensdóttir Rauterberg, Ruth; Kruschel, Robert & Leonhardt, Nico (Hrsg.): Inklusive Bildung in Island. Grundlagen, Praktiken und Reflexionen. Weinheim: Beltz Juventa, 222-238
Hinz, Andreas (2023): Inklusive und demokratische Bildung – Überlegungen zur intersektionalen Revitalisierung der Inklusionsdebatte. Zeitschrift für Inklusion 18(3). URL: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/703
Hinz, Andreas & Jerg, Jo (2024): Resonanz und Inklusion – Relationen zwischen zwei Begriffswelten. In: Jerg, Jo; Müller, Jens & Wahne, Tilman (Hrsg.): Resonanz erfahren – mit der Welt in Beziehung stehen. Vielfältige pädagogische Zugänge zu einer inklusionsorientierten kindheitspädagogischen Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 17-31
Jakob, Gisela & Schüler Bernd (Hrsg.) (2024): Eine neue Kultur des Engagements für junge Menschen: Zur Entwicklung von Patenschaften und Mentoring, ihrer Unterstützung und Erforschung in Deutschland. Einführung und Überblick. In: Jakob, Gisela & Schüler, Bernd (Hrsg.): Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche. Weinheim: Beltz Juventa, 9-38
Matthiesen, Tatjana (2024): Grußwort. In: Jakob, Gisela & Schüler, Bernd (Hrsg.): Patenschaften und Mentoring für Kinder und Jugendliche. Weinheim: Beltz Juventa, 7-8
Prengel, Annedore (1993): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Opladen: Leske + Budrich (4. Auflage 2019: Wiesbaden: VS)
Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. 2. Auflage. Opladen: Budrich
Reitz, Sandra (2020): Das Recht auf Partizipation – menschenrechtliche Handlungsnotwendigkeiten im Bildungsbereich. In: Boban, Ines & Hinz, Andreas (Hrsg.): Inklusion und Partizipation in Schule und Gesellschaft. Erfahrungen, Methoden, Analysen. Weinheim: Beltz Juventa
Simri, Dror & Hinz, Andreas (2021): Mentoring durch Dialog – Begleitung und Beratung von Schülerinnen in Demokratischen Schulen in Israel. Schule inklusiv 12, 39-41
Bezüge zu Annedore Prengel
Ines Boban und Andreas Hinz hatten das Glück, die Entwicklung der Integration und später der Inklusion seit ihren Anfängen in den 1980er Jahren verfolgen und evtl. ein bisschen beeinflussen zu können. In dieser frühen Phase entwickelte sich auch das Netzwerk der Wissenschaftlichen Begleitungen mit seinen jährlichen Treffen ab 1987, die später zur Inklusionforscherinnentagung wurden. In diesem Rahmen lernten sie auch Annedore Prengel kennen. Die intensivste Zeit – neben der als Kolleginnen an der Martin-Luther-Universität in Halle (Saale) – war, als Andreas an seiner Dissertation (1993) arbeitete und dafür auf Annedores „Pädagogik der Vielfalt“ (1993) als Anregung und Ermutigung zurückgreifen konnte.