Egalitäre Differenz – Machtkritik – Verantwortung

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(von Petra Wagner, November 2024)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

Wissenschaftlerinnen wissen häufig nicht, welche von ihren Werken bei Leserinnen welchen Eindruck hinterlassen haben. Ich möchte zum Ausdruck bringen, welche Publikationen und Positionierungen von Annedore Prengel mich beeindruckt und wie sie mich auf meinem fachlichen Weg begleitet haben. Ich beginne in den 90er Jahren und beschreibe einige Etappen:


Pädagogik der Vielfalt

Ich bin in zweisprachigen (deutsch-türkischen) Projekten in Berliner Kitas und Grundschulen tätig und meine Zweifel an der Interkulturellen Pädagogik wachsen, auch beeinflusst vom kritischen Fachdiskurs. Das Buch von Annedore Prengel „Pädagogik der Vielfalt“ von 1993 ist ein starker Impuls: Interkulturelle Pädagogik, Feministische Pädagogik, Integrationspädagogik zusammendenken – na klar! Kinder sind zugleich mehrsprachig, haben mit geschlechtlichen Identifikationen und mit Behinderungen/ Beeinträchtigungen zu tun. Die Getrenntheit der Fachszenen und -diskurse macht es unmöglich, der Komplexität kindlicher Erfahrungswelten pädagogisch gerecht zu werden! Annedore Prengel vertritt einen Differenzbegriff, der sich auf mehrere Aspekte und Ebenen von Heterogenität bezieht, Makro und Mikro, auf individuelle und kollektive Differenzen, auch auf innerpsychische.


Machtkritik versus „alles so schön bunt hier“

Annedore Prengels Differenzbegriff ist gleichzeitig machtkritisch und wendet sich entschieden gegen Hierarchien: „Die Option für Differenz ist eine Option gegen Hegemonie.“ (1995, 183) Und „Vielfalt realisiert sich erst in klarer Stellungnahme gegen herrscherliche Übergriff“ (ebd. 184).
Mit solchen Sätzen erteilt Prengel dem gleichmachend-verklärenden Vielfaltsbegriff eine Absage, wonach alles „so schön bunt“ ist und aus privilegierter Perspektive von „Bereicherung“ geschwärmt wird. In ihrem „demokratischen Differenzbegriff“ (ebd. 181f) ist nicht nur auf Unterschiedlichkeiten verwiesen, sondern auch auf Diskriminierungserfahrungen: Ein Kind ist nicht nur Kind einer zugewanderten Familie, zweisprachig, betrachtet sich als Mädchen, hat mit einer Hörbeeinträchtigung zu tun. Es ist auch betroffen von Rassismus, Sexismus, Ableismus und Adultismus.
Diese -ismen benennt Annedore Prengel noch nicht explizit. Intersektionalität hat damals noch keinen Eingang in den Fachdiskurs gefunden. Die Aufforderung von Annedore Prengel, die Analyse von Unterschieden konsequent in hierarchiekritischer Weise vorzunehmen, berücksichtigen wir in der Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung. Hier arbeiten wir daran, wie die Verschränkungen und Wechselwirkungen unterschiedlicher Differenz- und Diskriminierungslinien zu analysieren sind und wie sie pädagogisch aufgegriffen werden können. Die Fachstelle Kinderwelten ist seit 2000 ein Arbeitsbereich im Berliner Institut für den Situationsansatz (in der Internationalen Akademie Berlin gGmbH) und ab 2025 ein eigenständiger Verein.

Inklusion in der Frühpädagogik

Mit der Ratifizierung der UN-Konvention für die Rechte der Menschen mit Behinderungen 2009 kommt Schwung in die Debatte um Inklusion in Deutschland. Mit einer WIFF-Expertise 2010 sorgt Annedore Prengel dafür, dass die Kita in den Inklusions-Fokus rückt. Hier begegnen wir uns, auch persönlich, in einem Fachforum des Deutschen Jugendinstituts in München.
In der Fachstelle Kinderwelten haben wir zu dem Zeitpunkt den Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung zusammen mit Kitateams entwickelt und seit nunmehr zehn Jahren bundesweit erprobt. Unser Ansatz stimmt mit grundlegenden Prämissen eines weitgefassten Inklusionsbegriffs überein. Wir bezeichnen unseren Ansatz als „inklusives Praxiskonzept“, das Diversitätsorientierung systematisch mit Diskriminierungskritik verknüpft.
Annedore Prengel sieht in inklusiver Frühpädagogik ein hohes demokratisches Potenzial, um Tendenzen der Ausgrenzung und Diskriminierung entgegenzuwirken. Sie spannt in ihrer WIFF-Expertise einen weiten Bogen bildungstheoretischer, empirischer und pädagogischer Grundlagen. Sie zitiert uns als innovativen Ansatz, in ihrer beeindruckenden Literaturliste finden sich unsere Publikationen zum Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. (2010a, 37)


Gleichberechtigung der Verschiedenen: Egalitäre Differenz

Mit ihren Arbeiten zu Inklusion entwickelt Annedore Prengel ihre Denkfigur der „egalitären Differenz“ weiter. Darin liegt für sie der „Kern der Menschenrechtsidee“ (2010b, 6): Die gleiche Freiheit, die allen Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit zukomme. Annedore Prengel führt dazu aus: „Die Prinzipien von Gleichheit und Verschiedenheit sind unauflöslich miteinander verbunden, beide bedingen einander. Gleichheit ohne Differenz wäre Gleichschaltung, und Differenz ohne Gleichheit wäre Hierarchie.“ (ebd. 6)
Sie räumt ein, dass in diesem komplexen Zusammenhang verschiedene Fallstricke lauern. Heterogenität ist in Prengels Verständnis vielschichtig, veränderlich, intersektional, letztlich nicht komplett bestimmbar. Fachlich fundierte Kategorien für soziale oder kulturelle Lebenslagen, für Behinderungsarten und für Geschlechter seien einerseits wichtig, andererseits bestehe die Gefahr etikettierender Zuschreibungen.


Paradoxien, Widersprüche, Spannungsverhältnisse

Mit der „egalitären Differenz“ formuliert Annedore Prengel ein Spannungsverhältnis, das nicht einseitig auflösbar ist. Ähnlich formulieren es Louise Derman-Sparks und Kolleg*innen in ihrem ersten Buch zum Anti-Bias Approach, dessen Adaptierung für Verhältnisse in Deutschland der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung ist:
Es gehe mit der Anti-Bias-Arbeit darum, die „Spannung zwischen dem Respektieren von Unterschieden und dem Nicht-Akzeptieren von ungerechten Vorstellungen und Handlungen, kreativ auszutragen.“ (Derman-Sparks & A.B.C. Task Force 1989, X) Respekt für Unterschiede findet eine Grenze, wo Diskriminierung und Unrecht im Spiel sind. Das “kreative Austragen” verweist darauf, dass es keinen „goldenen Mittelweg“ oder formelhafte Antworten gibt, sondern in jedem einzelnen Fall zu prüfen ist: Bin ich hier respektvoll genug angesichts von Unterschieden? Gibt es hier Ungerechtigkeiten, gegen die ich Stellung beziehen muss? Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe! Sie erfordert kontinuierliche Selbst- und Praxisreflexion, die Analyse von Alltagssituationen und des eigenen fachlichen Handelns.
Annedore Prengel widersteht der Verführung abschließender oder einfacher Antworten. Ihre Texte drücken eine Lust am scharfsinnigen Ergründen von komplexen Zusammenhängen aus, an der Dialektik, an Paradoxien, an gesellschaftlichen Widersprüchen, am Veränderlichen:

  • Arbeiten zur „Pädagogik der Vielfalt“ charakterisiert sie als „Reflexionsarbeit an Widersprüchen und offenen Fragen“ (1995, 196).
  • Sie beschreibt die widersprüchliche Problemlagen einer inklusiven Frühpädagogik, die einer langfristigen Bearbeitung bedürfen (2010a, 43)
  • Demokratie bezeichnet sie als „unvollendet“, insofern die Geschichte der Demokratie auch die Geschichte des Umgangs mit Verschiedenheit sei, die Gruppen von Menschen ihre Grundrechte vorenthalte (2003).
  • Inklusion trage zur Demokratisierung bei, sei aber nie vollständig erreicht: „Inklusion als unabschließbare Demokratisierung in der Frühpädagogik“ (2012).
  • Auch in inklusiven Einrichtungen, so bremst sie selbstzufriedene Anmutungen, entstünden keine utopisch-heilen Welten, sondern „pädagogische Arrangements der Auseinandersetzung mit Widersprüchen“ (2010a, 44).

Machtkritik reloaded: Die eigene begrenzte Perspektive

Die Auseinandersetzung mit Widersprüchen findet unter der Bedingung der begrenzten eigenen Perspektive statt, die ebenfalls mitreflektiert werden muss. Bereits vor 20 Jahren führt Annedore Prengel aus: „Alles, was ich weiß und tue, hängt davon ab, wie und auf welcher Ebene mein Zugang zur Welt angesiedelt ist und welches Erkenntnisinteresse ich habe. Stets kann ich jeweils nur einen Ausschnitt der Welt wahrnehmen und beeinflussen. Mein Standpunkt bedingt, welchen Ausschnitt ich in den Blick bekomme. Dabei bin ich in hohem Maße von den gesellschaftlich-kulturellen Konventionen, deren Teil ich bin, abhängig.“ (2003)
Hierzu arbeiten wir in Kinderwelten: Am Aufdecken der Dominanz privilegierter Perspektiven. An einem kritischen Verständnis von „Privilegien“, insofern sie darin bestehen, gesellschaftliche Ungleichverhältnisse zu ignorieren und zu leugnen. An den Implikationen von „White Supremacy“, auch in unseren eigenen Strukturen. An einer diskriminierungskritischen Überprüfung unserer Organisation und an ihrer Diversifizierung. An Arbeitshilfen zur Intervention bei Diskriminierung (Fachstelle Kinderwelten 2023; Backhaus/Wolter 2019).
Wir treffen uns mit Annedore Prengel bei der Einsicht, dass die Demokratisierung der Bildungseinrichtungen expliziter Strategien gegen Gewalt und Diskriminierung bedarf. Unsere Beobachtungen von diskriminierenden Umgangsweisen mit Kindern in Kitas erweitert Annedore Prengel mit ihrer Analyse der Interaktionen im Grundschulunterricht im Rahmen des INTAKT Projektnetzes (2020a). Das beunruhigende Ergebnis: Ein Viertel der beobachteten Interaktionen zeigt verletzendes Verhalten gegenüber Schülerinnen (2020a,5f).

Ethische Pädagogik und die Verantwortung der Pädagoginnen

Zur Prävention ist Aufklärung über die schwerwiegenden Folgen von seelischen Verletzungen gefragt, von Adultismus, Ableismus und anderen Formen von Diskriminierung. Für Interventionen braucht es „verbindliche ethische Normen“ (2020a, 15), denn Annedore Prengel konstatiert einen Mangel an professionellen ethischen Orientierungen im Bildungswesen (2020, 102). Auch eine Skepsis gegenüber pädagogischer Normativität, mit Tendenzen der Ironisierung und Distanzierung (ebd. 64).
Mit dem Anliegen, eine ethisch orientierte Pädagogik zu begründen, führt Annedore Prengel Prinzipien ethischer Pädagogik aus und beschreibt Handlungsmöglichkeiten auf verschiedenen Ebenen. Wertebasis sind die Menschenrechte und die UN-Kinderrechte, die Prinzipien Gleichheit, Freiheit und Solidarität werden ausgeführt (2020, 39f). Ihr Anliegen ist, dass „Kreisläufe der Missachtung, der Unterdrückung, der Vernachlässigung und der Gewalt unterbrochen und Kreisläufe des Wohlwollens, der Unterstützung, des Respekts und der Freude gestärkt werden“ (2020, 12). Dafür sind Pädagoginnen zu gewinnen, aufbauend auf Potentialen einer positiven Beziehungsgestaltung, die als anerkennendes und fürsorgliches pädagogisches Handeln in etwa der Hälfte der beobachteten Interaktionen erkennbar war. Annedore Prengel betont die Verantwortung der Erwachsenen, gegenüber Kindern für klare ethische Orientierungen einzustehen, im Sinne der Menschenrechte und der UN-Kinderrechte. Auch an dieser Stelle zitieren wir uns gegenseitig, denn im Ansatz der Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung sind Werte- und Begriffsklärungen der Pädagoginnen zentral, um ihre Praxis diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch zu gestalten. Für die demokratische Kultur der Einrichtungen stehen Fachpersonal, Leitung und Träger. Sie erkennen Machtunterschiede und was Machtmissbrauch kennzeichnet. Sie überlassen es nicht den Kindern, ob es demokratisch zugehen soll oder nicht. Sie sichern Kindern Schutz vor Gewalt und Diskriminierung zu und sorgen dafür, dass Kinder ihre Rechte auf Bildung und Beteiligung wahrnehmen können. Sie treffen Vorkehrungen, dass Kinder sich beschweren können und machen transparent, was daraus folgt. Sie setzen sich mit Adultismus auseinander, der Diskriminierung mit Verweis auf junges Alter, die sie höchstwahrscheinlich selbst erlebt haben, und bewahren oder gewinnen Empathie für Kinder, auch in konflikthaften Situationen.
Annedore Prengel begründet die Initiative „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“. Die Leitlinien zu ethisch begründetem und ethisch unzulässigem Beziehungshandeln finden Eingang in den pädagogischen Fachdiskurs, über Fortbildungen, Veranstaltungen, Vorträge und Kampagnen. Sie transportieren die Utopie von Kitas und Schulen als „Caring Communities“. Das Engagement ergänzt Annedore Prengels wissenschaftliche Tätigkeit um eine aktivistisch-pädagogisch-praktische Dimension.


Liebe Annedore, ich sehe dich darin energisch und leidenschaftlich und freue mich!


Schwesterliche Grüße und alles Gute zum 80. Geburtstag!

Literatur:

Backhaus, Anne; Wolter, Berit (2019): Wenn Diskriminierung nicht in den Kummerkasten passt. Eine Arbeitshilfe zur Einführung von diskriminierungssensiblen Beschwerdeverfahren in der Kita. Verfügbar unter: https://kids.kinderwelten.net/de/50%20Publikationen/kids_arbeitshilfe.pdf?download
Derman-Sparks, L. & A.B.C. Task Force (1989): Anti-Bias-Curriculum: Tools for empowering young children. Washington D.C.
Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2023): Magazin: Fortbildungen – diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch, Ausgabe 2/2023: Intervenieren bei Diskriminierungen in Fortbildungen. Ayten, Nuran; Ringkamp, Tajan. https://situationsansatz.de/publikationen/magazin-fortbildungen-diversitaetsorientiert-und-diskriminierungskritisch-ausgabe-2-2023-intervenieren-bei-diskriminierungen-in-fortbildungen/
Fachstelle Kinderwelten (Hrsg.) (2023): Magazin: Fortbildungen – diversitätsorientiert und diskriminierungskritisch, Ausgabe 1/2023: Teamen im heterogenen Tandem. Wolter, Berit. https://situationsansatz.de/publikationen/teamen-im-heterogenen-tandem/
Prengel, A. (1995): Pädagogik der Vielfalt. Opladen.
Prengel, A. (2003): Gleichberechtigung der Verschiedenen. Plädoyer für eine Pädagogik der Vielfalt http://liga-kind.de/fk-603-prengel/
Prengel, Annedore (2010a): Inklusion in der Frühpädagogik. Bildungstheoretische, empirische und pädagogische Grundlagen. Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte. WiFF Expertisen, München
Prengel, Annedore (2010b): Wie viel Unterschiedlichkeit passt in eine Kita? Theoretische Grundlagen einer inklusiven Praxis in der Frühpädagogik. WiFF-Fachforum – 29.06.2010 – München https://www.weiterbildungsinitiative.de/fileadmin/Redaktion/Themen/PDF/WiFF_Fachforum_Inklusion_Impulsreferat_Prof_Dr_Prengel.pdf
Prengel, Annedore (2012): Inklusion als unabschließbare Demokratisierung in der Frühpädagogik. In: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): Diversität und Kindheit: Frühkindliche Bildung, Vielfalt und Inklusion. Dossier. https://www.boell.de/sites/default/files/2012-09-Diversitaet-Kindheit.pdf
Prengel, Annedore (2020): Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Weinheim/ Basel: Beltz
Prengel, A. (2020a): Destruktive Beziehungen in pädagogischen Arbeitsfeldern – Empirische und theoretische Zugänge. https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2020/05/Prengel_DestruktiveBeziehungen.pdf
Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen: https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2023/09/lay6-seiter_Reckahner_Reflxtionen2023-1.pdf
Petra Wagner, Erziehungswissenschaftlerin, seit 2000 Leiterin der Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung in Berlin, Autorin zahlreicher Publikationen zu Theorie und Praxis des Ansatzes.