(von Karsten Röthig)

Es war die 5. oder 6. Stunde Mathematik, in der Abiturphase. Alle haben Aufgaben zur Kurvendiskussion bearbeitet. Ich sitze in der letzten Bankreihe in der Fensterreihe.

Alle arbeiten intensiv an den Aufgaben, da fällt mir ein, dass ich mit meiner damaligen Freundin, die in der Mittelreihe, 2 Bankreihen vor mit sitzt, noch etwas für den Nachmittag absprechen wollte.

Als Schüler konnte ich nicht bis zum Ende der Stunde warten. Ich unterbrach meine Arbeit an der Aufgaben , schaute, wo sich gerade unser Mathelehrer aufhält und schrieb meiner Freundin auf einem kleinen Zettel einen Brief. Ich faltete das Briefchen, wie das so üblich war und wollte es meiner Freundin in einem günstigen Moment zuwerfen. Ich tat also sehr nachdenklich, hatte meinen Mathelehrer immer im Blick. In einem vermeintlich günstigen Augenblick warf ich ihr den Brief zu.

Leider waren meine Wurfqualitäten nicht so perfekt, denn der Brief prallte an die linke Tischkannte und landete genau in der Mitte des Ganges auf dem Fußboden. Inzwischen war unser Mathelehrer (von stattlicher Figur, immer mit zugeknöpftem weißen Kittel und die Arme auf dem Rücken verschränkt) hinter unserer letzten Bank, im Gang angekommen.

Ich hatte mich getäuscht, denn er hat meinen missglückten Wurf genau registriert. Er verzog keine Miene, blieb ruhig wie immer und setzte ganz langsam seine Runde fort. Er ging also auch zielsicher auf den im Gang liegenden Brief zu.

Ich duckte ab, mir wurde kalt und heiß und meine Konzentration auf die Matheaufgabe ging gegen Null. Ich dachte nur, hoffentlich hebt er ihn nicht auf, liest ihn und stellt mich so vor der Klasse bloß.

Mir war diese Situation hochpeinlich .

Er ging ganz entspannt auf diesen Brief zu, hielt inne, bückte sich gemächlich, hob den Brief auf. In diesem Moment wollte ich im Boden versinken. Er drehte sich ganz entspannt zu mir um und fragte ganz freundlich und ruhig, wohin der Brief sollte. Ich glaube, er genoss den Moment meines verdutzten Gesichtes. Ich beantwortete ihm die Frage.

Er drehte sich wieder um ging zur Bank meiner Freundin und legte ihr den Brief ohne Kommentar auf ihren Tisch. Dann wandte er seinen Blick zu mir und meinte locker: „Na wozu bin ich denn sonst da“.

Ich erlebe diese Situation auch nach fast 45 Jahren noch so, als wäre sie gestern geschehen.

Dieser Mathelehrer, den wir übrigens auch in Physik hatten, hat mich sehr geprägt und hat einen entscheidenden Anteil daran, dass ich selbst Lehrer für Mathematk und Physik geworden bin und größten Wert auf eine respektvolle Lehrer- Schüler- Beziehung lege.

Unser Lehrer wurde durch uns Schüler nicht nur wegen seiner erstklassigen Fachkompetenz geachtet, sondern auch wegen seinem fachübergreifenden Fachunterricht, der manchmal in fast philosophischen Diskussionsrunden endete.