(1.9.2024 Christiane Lenhard)  In Bremen leben neu zugewanderte Familien in riesigen Zeltstädten zur Erstaufnahme – oft monatelang. Im Sommer 2024 erhalten 90 Kinder aus diesen Familien ein Lernangebot. Die Senatorin für Kinder und Bildung trägt Sorge für diese Lernangebote, die weiter ausgebaut werden sollen. Die Pädagogin Christiane Lenhard berichtet, wie glücklich Kinder darüber sind, dass sie lernen dürfen.

In Bremen gibt es mehrere Erstaufnahmestellen für zugewanderte Familien. Solange sie keine Aufenthaltstitel haben, die einen längeren Aufenthalt in Aussicht stellen, bleiben diese Menschen in der Erstaufnahme.

In Bremen sind dies u.a. riesige Zeltstädte. Manchmal zieht sich der Aufenthalt in den Erstaufnahmen monatelang hin, denn die Migrationsbehörde ist überlastet, und Wohnraum in der Stadt ist knapp. Das Bremer Angebot, all diesen Kindern nun ein (bisher noch) freiwilliges Beschulungsangebot zu machen, ist daher besonders wichtig.

Viele Eltern nutzen es, denn sie wünschen sich eine bessere Zukunft für ihre Kinder. Manchmal bedeutet es für einige aber auch eine Überwindung, die eigenen Kinder nach der aufreibenden Flucht einer schulischen Einrichtung zu überlassen.

Dann hilft es sehr, dass das Team der Pädagog*innen aus Menschen mit unterschiedlichen Migrationsbiografien besteht. Das Lernangebot ist – auch durch sie – wie ein „Türöffner“nicht nur für die Eltern.“ Seit März 2024 machen Grundschulkinder täglich ihre ersten Erfahrungen mit Schule.

… und sie kommen gerne!!

Aktuell betreuen wir mit 4 Kolleginnen in zwei Schichten knapp 90 Kinder. Im Schichtunterricht werden vormittags und nachmittags in 3 Klassenräumen je 3 altersgemischte Gruppen (6/7  8/9  10/11) mit höchstens 15 Kindern pro Gruppe betreut. Ein Kollege ist sozusagen als Vertretungsreserve ständig vor Ort und erlaubt dadurch auch Doppelbesetzungen für Förder- bzw. Förderangebote.

Da ab sofort geplant ist, dass jeder der 8 Erstaufnahmestandorte in Bremen ein eigenes Lernangebot bekommt, werden gerade kontinuierlich weitere Kolleg*innen eingestellt. Diese werden als sogenannte ‘Lernbegleiter’ eingesetzt, da sie in der Regel keine bisher akzeptierten Abschlüsse mitbringen.

Die aktuellen Herkunftsländer der Kolleg*innen an meinem Standort sind Syrien, Türkei, Ägypten, Iran. Es gibt darüber aber auch Menschen aus der Ukraine, aus Chile etc.

Wir arbeiten in angemieteten Zusatzräumen auf dem Gelände einer Bremer Grundschule . Geplant ist aber ein Umzug nach wahrscheinlich einem Jahr, weil diese Räume demnächst in die Planung eines neuen Stadtviertels einfließen werden.

Alle weiteren geplanten Räume werden an die jeweiligen Gegebenheiten der Erstaufnahmeeinrichtung vor Ort angepasst. Es geht an unserem Lernort darum, einen ersten Kontakt mit der deutschen Sprache anzubahnen – darüber werden Kinder ohne Schulerfahrung parallel aber auch alphabetisiert. Außerdem sind mathematische Grundkenntnisse und kreative Inhalte als Unterrichtsschwerpunkte vorgesehen.

Zur Anwendung kommen vorwiegend spielerische Methoden u.a. für die Merkfähigkeit und Konzentration. Mit Hilfe von Gesellschaftsspielen, in sportlichen Aktivitäten oder im gemeinsamen kreativen Erleben findet ganzheitliche Sprachförderung statt.

Viele Kinder hatten noch nie in ihrem Leben eine Schere oder einen Klebestift in der Hand – und auch die anatomisch richtige Handhabung von Stiften muss gelernt sein. Wir lernen miteinander – und auch über Pantomime kann sehr gut kommuniziert werden. Die Lernfreude der Kinder steckt an! Oft steigen die Kinder, die aus den Bremer Erstaufnahmestellen mit einem Bus abgeholt werden, jubelnd aus: ‚Endlich Schule!!‘

Christiane Lenhard ist Koordinatorin des Lernangebots für neu zugewanderte Kinder in Bremen Website von Christiane Lenhard: www.christianelenhard.de

Ich-Geschichte in erahnter Kinderperspektive

Die folgende Ich-Geschichte hat Christiane Lenhard verfasst, indem sie sich in ein zugewandertes Kind hineinversetzt hat. Der Text ist im Juni 2024 entstanden während einer Übung zur Perspektivenübernahme bei einer Multiplikator*innen-Schulung im Rochow-Museum und Akademie in Reckahn im Juni 2024 (paedagogische-beziehungen.eu).

„Ich heiße Abena. Ich bin 6 Jahre alt und komme aus Ghana. Ich bin noch nicht lange in Deutschland und verstehe noch nicht viele deutsche Wörter.

In unserem Zimmer im Zelt wohne ich mit meiner Mama und einer anderen Familie aus Südafrika zusammen. Dort sprechen wir englisch. Mit Mama spreche ich fanti. Ich habe mich so gefreut, dass ich endlich in die Schule gehen darf! Auch Mama war ganz glücklich. Meine Lehrerin heißt Frau Al Masri. Sie ist sehr nett und auch so schön. Sie trägt ein Kopftuch und hat freundliche Augen. Ich freue mich jeden Tag auf sie.

Heute hat Frau Al Masri im Morgenkreis viele Fragen gestellt, die wir alle schon beantworten können: Wie heißt du? Wie alt bist du? Woher kommst du? Welche Sprache sprichst du? Wie heißen die Farben auf deutsch? Welche Körperteile kennst du… und noch viel mehr. Ich bin stolz, dass ich in wenigen Wochen so viele Wörter gelernt habe. Auf einmal hat Frau Al Masri eine kleine Puppe über die Hand gezogen. Die Puppe heißt FU. FU hat mich angesehen und mit mir gesprochen. Ich war ganz überrascht und glücklich. Mein Bauch hat gehüpft und meine Haut hat gekribbelt – ich bin fast vom Stuhl gefallen. Ich wollte FU unbedingt zeigen, dass ich auch schon einige Buchstaben lesen und schreiben kann.

Auch die Kinder neben mir waren ganz aufgeregt: Besonders Bahar aus dem Iran – sie versteht schon viel mehr als ich. Und auch Nala aus Somalia – sie ist erst ein paar Tage bei uns und noch ganz scheu – hat ein bisschen gelächelt. Ich hab extra noch ein bisschen mehr gezappelt, damit FU mich endlich dran nimmt – und ich war auch ein bisschen laut. Aber das machte nichts- auch Frau Al Masri hat sich gefreut, dass FU uns allen so gut gefällt. Am Ende durfte ich aufstehen und meinen Namen an die Tafel schreiben! Ich bin fast geplatzt vor Freude und hab Frau Al Masri glücklich angestrahlt. Es ist so schön in der Schule!!“

Literatur:

Prengel, Annedore (2022). Erinnerungsgeschichten in pädagogischen Ausbildungs- und Studiengängen: Ziele, Arbeitsbündnis, Arbeitsschritte und theoretische Bezüge. Die Materialwerkstatt. Zeitschrift für Konzepte Und Arbeitsmaterialien für Lehrer*innenbildung Und Unterricht., 4(5), 5–33. https://doi.org/10.11576/dimawe-4862