Gregorius Schlaghart und Lorenz Richard – ein Erbauungsbuch für Landschullehrer als früher Ethikkodex
(von Katrin Liebers, November 2024)
Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel
Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie an Unterricht in früheren Zeiten denken? Vermutlich denken Sie weniger an eine aufgeklärte Pädagogik oder die Achtung kindlicher Bedürnisse. Die meisten von uns haben eher Bilder von Lehrern im Kopf, die mit Prügeln drohten oder wirklich zuschlugen. Vielleicht erlebten einige der älteren Kolleginnen und Kollegen unter uns sogar selbst noch diese oder ähnlich demütigende Methoden in der Schule. Dennoch gab es immer schon Päda-gogen, die sich für eine gerechte und weitgehend missbrauchsfreie Schule und eine angemessene Behandlung von Kindern eingesetzt haben. Dafür möchte ich in diesem Blogbeitrag ein histori-sches Beispiel im Kontext seiner Zeit vorstellen.
Ein Büchlein, das weit mehr enthält, als sein Werbebild erahnen lässt
Im Jahr 1795 erschien in Nürnberg das kleinformatige Erbauungsbuch über die beiden Landschul-lehrer Gregorius Schlaghart und Lorenz Richard. Es wurde von Johann Ferdinand Schlez (1759–1839) verfasst, einem hessischen Geistlichen und bekannten pädagogischen Schriftsteller der Auf-klärung. Es folgen noch mehrere Auflagen und Bearbeitungen. Bekannt geworden ist dieses Buch vor allem infolge seines vorangestellten Kupferstiches (vgl. Abb. 1). Auf dem ist nicht nur der Lehrer Gregorius Schlaghart zu sehen, sondern auch seine zahlreichen martialischen Züchtigungs-instrumente. Dazu gehören die beiden stumpfgehauenen Ruten am Fenster sowie die frisch ge-schnittene Rute in der Hand des Kindes, der Schlagstock und das dreieckige Holzscheit mit dem darauf knieenden Jungen ins Auge. Weitere Utensilien, wie die Eselsbank, die Eselskappe und die hölzerne Brillenimitation an der Wand, dienen der Beschämung von Kindern (Liebers, im Druck). Besonders schockiert aus heutiger Sicht die Aufforderung des Lehrers an die Mitschüler: „Lacht ihn brav aus!“.
Die brutalen Disziplinierungen in Form von Körperstrafen, Demütigungen und Beschämungen durch den Schulmeister Gregorius Schlaghart in der fiktiven Dorfschule in Langenhausen sind aber nur ein Aspekt des Büchleins. Es enthält ebenso eine Darstellung eines „Ideals“ von einem Lehrer, Lorenz Richard, und seiner Art, den Unterricht in der Dorfschule Traubenheim zu gestalten. Somit propagiert das Buch vor allem eine ethische Pädagogik in Landschulen als Gegenentwurf zum vo-rangestellten Frontispiz.
Gregorius Schlaghart als Prototyp für gewalttätige und demütigende pädagogische Beziehungen
Für den Lehrer Gregorius Schlaghart ist es eine gänzlich unbekannte Kunst, die „Aufmerksamkeit aller Kinder durch das Anziehende des Vortrags und Gesprächs, durch gleichzeitige Beschäfti-gung, durch Überraschung der Unaufmerksamen mit Fragen und durch ähnliche Mittel zu erhalten und zu schärfen; den Gehorsam der Kinder auf Liebe zu sich selbst, zum Lehrer und zur guten Sa-che zu bauen, sie durch Belohnungen zu ermuntern, etc.“ (Schlez, 1803, S. 122). Er kennt „keine wirksamen Mittel um Fleiß, Aufmerksamkeit, Gehorsam, Sittsamkeit und andere Tugend in seine Schüler zu bringen“ (ebd.), als seine „pädagogische Rüst- und Folterkammer“ (S. 90 und Abb. 1). Von der Kunst, Fehler zu verhüten, weiss er gar nichts; desto besser aber versteht er das Handwerk, sie zu bestrafen. Sehr ausführlich legt der Autor dar, wie ungerecht, unreflektiert und brutal die Strafaktionen sind. So bestraft Gregorius Schlaghart die Kinder nicht etwa, um sie zu bessern, son-dern je nach Lust und Laune. Hinzu kommt, dass die Kinder auch nach ihren Schulgeschenken bestraft wurden: „Wer zu wenig oder gar nichts mitbrachte, wurde sicherlich vom ersten Gebothe bis zum letzten Sakrament durchgescholten und durchgeprügelt“ (S. 125).
Besonders empörend findet der Autor, dass die Strafen „ohne alle Rücksicht auf die innere Be-schaffenheit und die äußeren Umstände“ (S. 125) erfolgen, viel zu oft angewendet werden und letztendlich nur die Schläge ihre Abschreckungskraft behielten: „Nicht selten trugen die Gezüch-tigten wochenlang die Striemen auf den Rücken oder Gesäß herum. Die Nägel giengen ihnen … ab, das Ohr schwoll Ihnen beynahe von den Ohrfeigen, wenn er sie mit der Faust versetzte… Im Sturm der Leidenschaft streift er den Knaben die Beinkleider vom Leibe, und hieb an ihnen, Angesichts aller Kinder beyderley Geschlechts, manche Rute stumpf“ (S. 129).
Lorenz Richard als Prototyp für anerkennende pädagogische Beziehungen
Der Lehrer Lorenz Richard gründet sein pädagogisches Ethos auf die Liebe und Hochachtung der Kinder ihm gegenüber, genauso, wie er selbst seine Schulkinder liebt. Durch „Heiterkeit, einen lebhaften Unterricht, und durch väterliche Behandlung suchte er seine Zöglinge zu gewinnen; noch hundert kleine Einfälle wußte er zu benutzen, um ihre Herzen zu fesseln“ (S. 157). Nach seiner Meinung besteht die „höchste Klugheit eines Lehrers in der Kunst …, jedes Kind bey seinen beson-deren Neigungen und Anlagen zu fassen“ (S. 139). Beschimpfungen und Körperstrafen lehnt Lo-renz Richard ab, weil sie keinen Menschen bessern. Zuweilen würden sie aber notwendig, um Kin-der dazu zu bringen, über ihr Verhalten nachzudenken, wenn alle Mittel der Güte nicht geholfen haben. Dies tat er bei Betrug und Diebstahl, Grausamkeiten gegen Menschen und Tiere oder ab-sichtlichem Ungehorsam. Dabei betont der Autor, dass Lorenz Richard nie barbarisch oder unver-dientermaßen, ohne Vorbereitung oder in der Hitze der Leidenschaft und stets nur mit betrübter Miene des Mitleids straft. Wenn Richard Köperstrafen einsetzt, will er keine Verletzungen erzie-len. Deshalb schlägt er mit einer dünnen Haselrute Kindern so auf die Schultern, dass es zwar zu spüren ist, aber keine Striemen hinterlässt. Wichtiger als der Schmerz ist ihm die Selbsterkenntnis seiner Schüler.
Körperstrafen zwischen dem Zeitgeist der Aufklärung und des Neuhumanismus
Vehement plädiert der Autor F. E. Schlez in seinem Erbauungsbuch dafür, Gewalt und Strafen für Kinder auf das notwendige Minimum zu begrenzen. Die Schulzucht beschreibt er als das größte Meisterstück eines Schullehrers, weil die weise Wahl der Mittel „mit so vielen Schwierigkeiten verknüpft“ ist und eine „so reichliche Gabe von Menschenkenntnis und Klugheit fordert“ (S. 121). Dennoch lehnt er, entsprechend des vorherrschenden Zeitgeistes, Köperstrafen nicht gänzlich ab, denn diese werden weithin als unumgänglich betrachtet. Damit argumentiert er ähnlich wie Imma-nuel Kant in seiner Schrift über Pädagogik (1803). Kant schreibt, dass Strafen immer angemessen und mit Behutsamkeit zugefügt werden sollen, damit Kinder sehen, „dass blos ihre Besserung der Endzweck derselben sei“ und betonte zugleich, dass „keine Uebertretung des Schulgesetzes …aber ungestraft“ hingenommen werden könne“ (1803, S. 72 f.).
Ebenso finden sich in den Reflexionen des Autors auch Anklänge an den beginnenden Neuhuma-nismus, der von Jean-Jaques Rousseau in seinem Erziehungsroman “Émile“ (1762) begründet wurde. Rousseau forderte, das Wohl der Kinder über den äußeren Zwang zu stellen und Kinder nicht länger wie Zirkuspferde abzurichten . Erzieher sollen eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern aufbauen, die ihnen innewohnenden Potenziale erkennen und diese sowie das Wohl des Kindes fördern (Hagenauer & Raufelder, 2022). Diese neuen Ideen wurden in den deutschen Län-dern gefeiert und zugleich heftig diskutiert. So erschienen in kurzer Zeit ein „Gegen-Emil“ und in Süddeutschland ein „Neuer Emil“ (Beck, 1934) .
Erziehung nach Ideen aus der philanthropische Musterschule in Reckahn
Dem pädagogischen Autor Schlez war die berühmte philanthropische Musterschule in Reckahn (Mark Brandenburg) gut bekannt, in der ab dem Jahr 1773 eine kindorientierte und aufgeklärte Pädagogik praktiziert wurde (Schmitt & Tosch, 2001). Ob er selbst zu den tausenden Besuchern der Schule zählte, ist jedoch unklar. Das vom Reckahner Gutsbesitzer und Schulgründer F. E. von Rochow für Landkinder entwickelte lebensweltliche Lesebuch „Der Kinderfreund“ (1776), hat Schlez jedenfalls so beeindruckt, dass er es in einer angepassten Version für Oberdeutschland und Franken im Jahr 1798 herausgegeben hat . Zugleich hat er 1796 eine Anleitung für Schullehrer (Kathetik) geschrieben, wie diese die Lesestücke nach Reckahner Muster mit den Kindern zusam-men im Gespräch erschließen und besprechen können (Böning, 2001).
Pädagogisches Ethos als professionelle Selbstverpflichtung
Das Erbauungsbuch soll mit seinen Ideen einer guten Pädagogik und einer weitgehend miss-brauchsfreien Beschulung ausdrücklich andere Lehrer zur Nachahmung anregen (S. 84) und will alles notwendige Wissen und Können für den Lehrerberuf bereitstellen. Lorenz Richard wird dabei als ein Musterlehrer dargestellt, sein pädagogisches Ethos ist von Liebe und einer Achtsamkeit gegenüber seinen Zöglingen geprägt, die er fördern und auf den Weg der (Selbst-)Erkenntnis brin-gen will. Als abschreckendes Gegenbeispiel dient Gregorius Schlaghart. Sein gewalttätiges und demütigendes Lehrerverhaltens dient als Prototyp eines „verdorbenen Schulmeisters“ und soll an-dere Lehrer überzeugen, dessen Werte und Methoden nicht zu akzeptieren. Stattdessen postuliert das Buch auf fast allen seinen Seiten ein pädagogisches Ethos für Landschullehrer, das als eine frühe Form einer professionellen Selbstverpflichtung verstanden werden kann (vgl. dazu Prengel, 2020, S. 58).
Das Erbauungsbuch im Spiegel aktueller Prinzipien einer ethischen Pädagogik
Betrachtet man das Erbauungsbuch im Kontext aktueller ethischer Prinzipien lassen sich sowohl Schnittmengen als auch Fehlstellen identifizieren. Verglichen mit den sieben Prinzipien einer ethi-schen Pädagogik, die Annedore Prengel im Jahr 2020 herausgearbeitet hat, finden sich Anklänge an das Prinzip der Selbstsorge, nach dem Lehrpersonen nicht nur für ihr eigenes Wohlbefinden, sondern ebenso für ihre fachlichen Kompetenzen und ethischen Orientierungen Verantwortung tragen. Besonders deutlich wird im Erbauungsbuch das Prinzip des „Nicht-Schadens“ betont. Über Seiten beklagt der Autor die schädlichen Wirkungen der typischen Körperstrafen in Landschulen und das Wegsehen der damaligen Schulaufsicht, d. h. der Geistlichkeit. Auch für das Prinzip des Wohltuns, mit dem „die körperliche, seelische, soziale und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen“ unterstützt wird (Prengel, 2020, S. 69), finden sich ebenso Belege wie für eine entwicklungsangemessene Autonomie von Kindern und die Gerechtigkeit pädagogischer Hand-lungsweisen. Besonders deutlich wird entsprechend des Zeitkontextes die advokatorische Verant-wortung von Landlehrern betont – sie sollen ihre pädagogischen Entscheidungen so treffen, dass sie Kinder in ihrer Entwicklung unterstützen. Zusammenschauend kann das Erbauungsbuch als ein früher und ambitionierter Beitrag seiner Zeit zu einer Pädagogischen Ethik verstanden werden. Es zeigt, dass unsere Vorstellungen von prügelnden Lehrern nur einen Ausschnitt der damaligen An-sichten widerspiegeln.
Quellenangaben
Beck, C. (1934). Fortschrittliche Schulmänner des Aischgrundes im 18. Jahrhundert. Die Heimat (9), 43.
Böning, H. (2001). Friedrich Eberhard von Rochow und seine Wirkung in der deutschen Volksauf-klärung. In H. Schmitt & F. Tosch (Hg.), Vernunft fürs Volk (S. 177–186). Henschel: Leipzig.
Hagenauer, G. & Raufelder, D. (2022). Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung. In T. Hascher, T.-S. Idel & W. Helsper (Hrsg.), Handbuch Schulforschung (S. 979–997). Springer: Wiesbaden.
Kant, E. (1803). Über Pädagogik. Friedrich Nicolovius: Königsberg. Online unter https://www.deutschestextarchiv.de/book/show/kant_paedagogik_1803
Liebers, K. (im Druck). Beschämung in pädagogischen Beziehungen. Grundschule (5-2024).
Prengel, A. (2020). Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Beltz: Weinheim.
Rochow, F. E. (1762). Der Kinderfreund. Ein Lesebuch zum Gebrauch in Landschulen. Gebrüder Halle: Brandenburg und Leipzig.
Rousseau, J.-J. (1762). Émile ou de l’education. Duchesne: Paris. Online in einer deutschen Versi-on von Martin Rang unter https://www.europa.clio-online.de/quelle/id/q63-28299
Schlez, J. F. (1803). Gregorius Schlaghart uns Lorenz Richard oder: Die Dorfschulen zu Langen-hausen und Traubenheim. Churfürstlicher deutscher Schulbuchverlag am Rindermarkte: München.
Schmitt, H. & Tosch, F. (2001) (Hg.). Vernunft fürs Volk. Friedrich Eberhard von Rochow im Auf-bruch Preußens. Henschel: Leipzig.
Autorin und Bezug zu Annedore Prengel
Prof. Dr. Katrin Liebers war Lehrerin und Lehrerfortbildnerin und promovierte im Jahr 2007 bei Annedore Prengel an der Universität Potsdam zur flexiblen Schuleingangsphase. Seit 2012 ist sie Professorin für die Schulpädagogik des Primarbereichs an der Universität Leipzig. Sie ist mit An-nedore Prengel seit vielen Jahren über gemeinsame Projekte, wie ILEA, oder die Begeisterung für Reckahn verbunden.