Männlichkeit in pädagogischen Beziehungen

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(von Thomas Viola Rieske, November 2024)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

Relationality matters!

Beziehungen als Thema pädagogischer Reflexion zu sehen, ist nicht selbstverständlich. Annedore Prengels Schriften (z.B. 2019) haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Bedeutsamkeit der Beziehung zwischen Pädagoginnen und Lernenden anerkannt wird. Wenn menschliches Leben als prinzipiell intersubjektiv gesehen wird, werden sowohl die besondere Verletzbarkeit von insbesondere heranwachsenden Lernenden als auch Ressourcen für Lernprozesse sichtbar , die in der Beziehungsdimension der pädagogischen Situation enthalten sind. So wird deutlich, dass die achtsame und an Solidarität orientierte Gestaltung pädagogischer Beziehungen ein wesentliches Element der Initiierung von und Einwirkung auf Bildungsprozesse ist. Ob pädagogisches Handeln zur Wiederherstellung und Erweiterung von Handlungsfähigkeit beiträgt und Orte der intergenerationalen Aushandlung auch von Konflikten bereitstellt oder aber die Entwicklung von Handlungsfähigkeit behindert oder diese gar schädigt – das hängt von dem reflektierten Umgang mit der Beziehungsdimension pädagogischen Handelns ab.

Gender matters!

Feministische Wissenschaftlerinnen haben in den vergangenen Jahren Begriffe wie Sorge, Angewiesensein oder Care als relevant für erziehungswissenschaftliche Reflexionen hervorgehoben und zugleich gezeigt, dass die damit analysierbaren Phänomene vergeschlechtlicht sind (vgl. Rendtorff 2023). Sorgearbeit wurde und wird weltweit vielfach mittels naturalisierender Zuschreibungen an Frauen delegiert und mit Mütterlichkeit assoziiert. Dort, wo Männer einbezogen werden, werden ihnen gerne einzelne Aspekte von Sorgearbeit zugesprochen wie z.B. das Disziplinieren von Jungen, das Arrangieren von Bewegungsmöglichkeiten oder das Leiten einer Einrichtung (vgl. Burn/Pratt-Adams 2015). Zugespitzt wird Frauen das Herstellen von Nähe zugesprochen, Männern das Herstellen von Distanz und übergreifend letzteres als Kern von Pädagogik verstanden. Weiblichkeit ist damit zugleich als potenziell unprofessionell und unpädagogisch markiert, Männlichkeit hingegen erscheint eher als vereinbar mit pädagogischen Professionalitätsidealen. Jeannette Windheuser argumentiert vor diesem Hintergrund für ein Verständnis von Erziehung als „in vergeschlechtlichten Verhältnissen erfolgende Bearbeitung der generationalen Differenz“ (Windheuser 2022, S. 188) aufzufassen. Auch hier stellen Bildungsprozesse den Fluchtpunkt pädagogischen Handelns dar, doch sie werden in feministischer Perspektive als reflexive Bearbeitung von Relationalität verstanden. Autonomie des Menschen bedeutet dann nicht grenzelose Freiheit, sondern die „Fähigkeit, seine Angewiesenheit auf Geschichte, auf Sprache, Politik und Gesellschaft, auf Körper und Psyche wahrnehmen zu können.“ (Windheuser 2020, S. 165). Dieser feministische Bildungsbegriff ermöglicht es auch, die ethische Dimension von Bildungsprozessen zu reflektieren, wie Annedore Prengel gezeigt hat. Denn die Anerkennung von Angewiesenheit und Relationalität ist nicht nur als Orientierung für das Pädagoginnen zu verstehen, um die Würde und Rechte von Lernenden zu beachten. Sie ist zugleich ein Bildungsziel in demokratisch verfassten Gesellschaften (vgl. Prengel 2020, insbes. Kap. 7).


Masculinity matters!

Wenn man nun den Begriff „Männlichkeit“ zu diesen Reflexionen hinzufügt, stellt sich zunächst die Frage, wofür er steht. Einerseits lässt er sich für konkrete Personen verwenden, d.h. Jungen und Männer. Doch Männlichkeit ist als kulturelle Konstruktion keine Eigenschaft von Jungen und Männern, sondern vielmehr eine Erwartung, mit der sie konfrontiert sind (Stuve/Debus 2012). Sie strukturiert soziale Praxis in normativer Weise – wenn diejenigen, von denen Männlichkeit erwartet wird oder die sich an ihr orientieren, den damit verbundenen Aspekten entsprechen, erfahren Sie Zugehörigkeit und Wertschätzung. Wenn sie es nicht (oder in sozial nicht legitimer Weise) tun, müssen sie Diskriminierung und Ausschluss erwarten.

Die Inhalte von Männlichkeitserwartungen sind vielgestaltig, doch hängen sie häufig mit einer Priorisierung von Souveränität, Überlegenheit und Unabhängigkeit zusammen und einer Verdrängung von Angewiesensein. Das heißt nicht, dass die Praxis von Jungen und Männern durchgängig an Souveränität etc. orientiert ist – bekanntlich gibt es auch Formen der Abhängigkeits- und Unterwerfungsbeziehungen, in die sich Männer hineinbegeben, etwa im Militär (vgl. hierzu die spannende und kontroverse Diskussion in Stützel et al. 2022). Doch auch diese sind zumindest an dem Erreichen von Souveränität (zum Beispiel als Kollektiv gegenüber anderen) geknüpft. Untersuchungen zeigen immer wieder, dass Sorgepraktiken einerseits ein alltäglicher Teil der sozialen Praxis von männlichen Personen sind, zugleich aber aufgrund von Männlichkeitsnormen nicht thematisiert oder mit Dominanzvorstellungen verknüpft werden (vgl. hierzu den differenzierten Beitrag von Scholz et al. 2024).


Männlich strukturierte Beziehungsdynamiken


Im Forschungsprojekt „Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern“ (INTAKT), in welchem über 12000 Interaktionssequenzen in vor allem schulischen Settings inhaltsanalytisch ausgewertet wurden, zeigt sich dies in der Analyse zu anerkennenden und missachtenden Interaktionen mit SchülerInnen (vgl. zum Folgenden Prengel et al. 2017). Zum einen dominieren Jungen in der Aufmerksamkeitsökonomie von Unterricht: in 38% der untersuchten Sequenzen wurden Jungen, in 22% der Sequenzen wurden Mädchen angesprochen (in 40% der Feldvignetten wurden Personen beider Geschlechtszugehörigkeiten angesprochen). Zum anderen kam das Forschungsteam zu dem Ergebnis, dass 24% aller Adressierungen von Mädchen, jedoch 28% der Adressierungen von Jungen als verletzend kategorisiert wurden. Auch wenn diese Differenz klein ist, könnte sie – vor allem in Kombination mit dem Befund zur vergeschlechtlichten Aufmerksamkeit – als Beleg dafür gesehen werden, dass Jungen mehr Verletzung zugemutet wird und damit an sie stärker als an Mädchen die Erwartung gerichtet wird, souverän gegenüber sich selbst, anderen und der Welt zu sein. Zugleich kann eine derartige Interaktion auch viele positive Aspekte beinhalten. Es könnte genau diese Kombination sein – mehr Aufmerksamkeit sowohl in bestätigender Form als auch in verletzender und zu innerer Distanzierung auffordernder Form, die eine Grundlage für Phänomene männlicher Dominanz in unserer Kultur sind.
Eine gänzlich andere Perspektive auf Männlichkeit in pädagogischen Beziehungen nehmen Sturzenhecker/Winter (2002) ein, wenn sie die Beziehungsgestaltung in der geschlechterreflektierten sozialpädagogischen Arbeit männlicher Pädagogen mit Jungen (kurz gefasst: Jungenarbeit, vgl. Rieske 2015). In ihrem Text beschreiben sie eindrücklich, wie und warum Jungenarbeiter die Beziehungswünsche der Jungen nicht pädagogisch angemessen beantworten. Jungenarbeiter würden diese Beziehungswünsche vielfach als Wunsch nach einem Vater erleben und darauf mit Angst und Vermeidung reagieren – sie ziehen sich entweder zurück oder bieten eine kumpelhafte Beziehung an.


Ausblick

Zugegebenermaßen verwenden die Überlegungen in diesem Beitrag den Begriff „Männlichkeit“ in negativer und kritischer Weise. Sicherlich verleiht eine Orientierung an Männlichkeit auch Zugehörigkeit, Sicherheit, Identität und Orientierung. Die mit Männlichkeit verbundenen Eigenschaften oder Verhaltensweisen sind, sofern sie nicht mit einem Überlegenheitsanspruch versehen sind, wertvolle Aspekte des menschlichen Lebens. Doch weil diese immer wieder mit Überlegenheitsansprüchen und -erwartungen assoziiert werden, ist es notwendig, pädagogische Beziehungen jenseits von Männlichkeits- (und Weiblichkeits-!)vorstellungen zu denken. Dies zu tun, ist teilweise ein utopisches Denken. Es ist ein wohltuendes Denken, da es an Verbundenheit orientiert ist.


Literaturverzeichnis


AG Androzentrismus (2024): Begriff und Praxis des Androzentrismus erziehungswissenschaftlich gedacht. In: Langer, Antje/Mahs, Claudia/Thon, Christine/Windheuser, Jeannette (Hrsg.): Das unkaputtbare Patriarchat? Geschlechterhierarchie als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung. Leverkusen: Barbara Budrich.

Burn, Elisabeth/Pratt-Adams, Simon (2015): Men Teaching Children 3-11. Dismantling Gender Barriers. London: Bloomsbury.

Dietrich, Anette/Budde, Jürgen (2022): „Ich geb nem Jungen nen Check und keine Umarmung“ – Zwischen Transformation und Tradierung von Männlichkeiten in der Schule. In: Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (Hrsg.): Jungen in Bildungskontexten. Männlichkeit, Geschlecht und Pädagogik in Kindheit und Jugend. Opladen: Barbara Budrich. S. 117–149.


Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Opladen: Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2020): Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Weinheim: Beltz.

Prengel, Annedore/Tellisch, Christin/Wohne, Anne/Wysujack, Vivien (2017): Anerkennung und Verletzung von Mädchen und Jungen durch pädagogisches Handeln. In: Kampshoff, Marita/Scholand, Barbara (Hrsg.): Schule als Feld – Unterricht als Bühne – Geschlecht als Praxis. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. S. 119–137.

Rendtorff, Barbara (2023): Sorge und Angewiesensein. In: Baader, Meike Sophia/Hoffarth, Britta/Rendtorff, Barbara/Thon, Christine (Hrsg.): Erziehung und Bildung: geschlechtertheoretische Positionierungen. Weinheim: Beltz Juventa. S. 84–98.

Rieske, Thomas Viola (2015): Pädagogische Handlungsmuster in der Jungenarbeit. Eine Untersuchung zur Praxis von Jungenarbeit in kurzzeitpädagogischen Settings. Opladen: Budrich UniPress.

Scholz, Sylka/Schwarzenbacher, Iris/Leja, Kevin/Başer, Nadine N. (2024): Caring Boyhood? A Qualitative Study of the Complex Relation Between Care, Adolescence, and Masculinity. In: Men and Masculinities.

Sturzenhecker, Benedikt/Winter, Reinhard (2002): Kumpel und/oder Vater? Zur Beziehungsgestaltung in der Jungenarbeit. In: Sturzenhecker, Benedikt/Winter, Reinhard (Hrsg.): Praxis der Jungenarbeit. Modelle, Methoden und Erfahrungen aus pädagogischen Arbeitsfeldern. Weinheim: Juventa. S. 63–78.

Stützel, Kevin/Budde, Jürgen/Höyng, Stephan/Thielen, Marc/Rieske, Thomas Viola/Scholz, Sylka (2022): Was heißt heutzutage ‚männlich‘ sein? Von ‚dicken Begriffen‘, ‚diskursiven Brecheisen‘, ‚Barbiepuppen als Spiderman‘, ‚Jungs im rosa Kleid‘ und dem Ringen um Begriffe und männlichkeitstheoretische Konzepte in der Forschungspraxis. In: Budde, Jürgen/Rieske, Thomas Viola (Hrsg.): Jungen in Bildungskontexten. Männlichkeit, Geschlecht und Pädagogik in Kindheit und Jugend. Opladen: Barbara Budrich. S. 291–321.

Stuve, Olaf/Debus, Katharina (2012): Männlichkeitsanforderungen. Impulse kritischer Männlichkeitstheorie für eine geschlechterreflektierte Pädagogik mit Jungen. In: Dissens e.V./Debus, Katharina/Könnecke, Bernard/Schwerma, Klaus/Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen in der Schule: Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. Berlin: Dissens e.V. S. 43–60.

Thole, Werner/Baader, Meike Sophia/Helsper, Werner/Kappeler, Manfred/Leuzinger-Bohleber, Marianne/Reh, Sabine/Sielert, Uwe/Thompson, Christiane (Hrsg.) (2012): Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik. Opladen: Barbara Budrich.

Windheuser, Jeannette (2020): Frauenstudien. Zwischen autonomen Frauenbildungszusammenhängen und akademisierter Geschlechterforschung. In: Iller, Carola (Hrsg.): Von der Exklusion zur Inklusion. Weiterbildung im Sozialsystem Hochschule. Bielefeld: wbv. S. 161–173.

Windheuser, Jeannette (2022): Erziehung feministisch denken. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 98, H. 2, S. 185–201.

Bezüge zu Annedore Prengel

Annedore Prengel hat nicht nur meine Promotion betreut und in sehr unterstützender Weise mit auf den Weg gebracht – sie hat mit ihrer Haltung auch meine weitere Arbeit inspiriert. Wenn ich in wissenschaftlichen, pädagogischen oder geschlechterpolitischen Fragen mal wieder vor einem Dilemma stehe und nicht weiß, wie ich mich in einem Dickicht von miteinander im Widerstreit stehenden, jeweils durchaus überzeugenden Ansichten positionieren soll: Einfach mal das Herz führen lassen hilft.