Problematisches Verhalten verstehen – Bedürfnisse aufgreifen

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(Oggi Enderlein, Juni 2025)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

In den „Reckahner Reflexionen“ steht unter „was ethisch begründet ist“  als 5. Leitlinie: „Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.“

Kinder, die Probleme machen, sind Kinder, die Probleme haben.

Warum verhalten sich Lehr- oder Betreuungspersonen unfreundlich, abwertend, verletzend, beschämend? In Gesprächen bei zahlreichen Fortbildungen wurde deutlich, dass sich die Erwachsenen in den meisten Fällen vom Verhalten der Kinder schlicht „genervt“ fühlen.

Wenn sich Kinder nicht situationsgerecht verhalten, liegt das wohl öfter als vermutet daran, dass grundlegende Bedürfnisse nicht ausreichend befriedigt werden. Das kann ganz einfach Hunger sein, denn Hunger macht unruhig und aggressiv. Das Thema ungestillte Bedürfnisse geht aber tiefer: vor allem im Grundschulalter fehlt vielen Kindern Raum und Zeit für ihre entwicklungsrelevanten Bedürfnisse und Lebensthemen (Enderlein 2022 und 2023).

Die steigende Zahl von Jungen und Mädchen mit psychosomatischen Belastungssymptomen, Depressionen, Konzentrationsproblemen, Unruhe, auffälligem Verhalten sind Hilferufe (Enderlein 2023, Hansen et al. 2024) Die Gründe dafür liegen nicht immer nur am „Charakter des Kindes“, seiner Familie, den Klassenkameraden, den Lehrerinnen und Lehrern oder dem Lernstoff. Manchmal  liegt auch an den Reglementierungen in pädagogischen Institutionen und daran, dass die zuständigen Erwachsenen nicht erkennen, welche unterdrückten Bedürfnisse hinter dem „schwierigen“ Verhalten der Kinder stecken.

Ermöglichen statt verhindern

Eine kleine Episode bei einer Fortbildung für Erzieherinnen und Erzieher von Horten in Brandenburg zeigt, wie es sich auswirken kann, wenn Erwachsene den Sinn von störendem Verhalten erkennen und dem dahinterstehenden Bedürfnis einen passenden Raum geben.

Die Fortbildung fand an zwei Terminen statt. Beim ersten Termin ging es um die speziellen Interessen, Abneigungen, Lebensthemen und Bedürfnisse der Kinder im Grundschulalter, also der „Großen Kinder“ zwischen etwa 6 und 12 Jahren (Enderlein 2015).

Eine Teilnehmerin fühlte sich von dem Ansatz „Grenzen und Freiräume“ zu definieren, besonders angesprochen, weil der Alltag in ihrer Einrichtung stark durch Verbote und Gebote für die Kinder reglementiert war. Es gab viel unterschwellige aber auch offene Aggressivität unter den Kindern und auch bei den Erwachsenen war die Stimmung oft angespannt und gereizt.

Zu oft sagten Erzieherinnen und Erziehern zu den Kindern: „das darfst du nicht“, „das ist verboten“ beziehungsweise „du musst das machen“. Es war weniger üblich, den Kindern Alternativen aufzuzeigen, nach dem Motto: nicht hier – sondern dort, nicht jetzt – aber dann, statt mit diesem – besser mit jenem, nicht so – sondern so. Die Erzieherin wollte in den folgenden sechs Wochen versuchen, in ihrer Einrichtung an diesem Thema zu arbeiten.

Die Rauf-AG

Im ersten Treffen war ihr bewusst geworden, dass die Kinder in ihrer Einrichtung zu wenig Gelegenheiten hatten, sich aufeinander einzulassen, auch körperlich Kräfte zu messen. Rangeleien wurden schon im Ansatz unterbunden, denn zu oft waren sie ausgeartet. Den Kindern fehlte anscheinend das Gefühl für die Schmerzgrenzen der anderen und manche agierten dann rücksichtslos und ungehemmt. Die Pädagog:innen hatten Sorge, dass sich die Kinder ernsthaft verletzen könnten.

Trotz Bedenken von Kolleginnen richtete die Erzieherin – zunächst als Versuch – eine „Rauf-AG“ ein: Diese fand an einem Nachmittag pro Woche Im Bewegungsraum statt: auf Matten und nach Regel, die sich die Kinder selbst gaben: Raufen ist Ringen mit Kraft und Geschicklichkeit, aber ohne Wut im Bauch. Und ohne sich absichtlich weh zu tun! Hauen, boxen, treten, würgen, Haare ziehen, kneifen, kratzen, beißen ist verboten. „Stopp“ sagen und Klopfen mit der flachen Hand auf die Matte heißt Stopp und muss sofort respektiert werden. Der Andrang der Jungen war so groß, dass die Erzieherin bald eine zweite AG anbieten musste.

Eines Tages wollten auch zwei Mädchen mitmachen und miteinander ringen. So kamen auch Mädchen dazu. Und dann fragten die Kinder, ob denn auch Jungen mit Mädchen kämpfen dürften. Auch das wurde selbstverständlich zugelassen, und zur Überraschung vor allem der Jungen, siegte oft das Mädchen.

Der Erzieherin war es aber ein besonderes Anliegen, der Fortbildungsgruppe vom Effekt der „Rauf-AG“ zu berichten: Aggressivität im Hort, aber auch in den Klassen war zurückgegangen, die Stimmung in beiden Einrichtungen war deutlich entspannter. Die Kinder gingen freundschaftlicher und respektvoller miteinander um.

Pro und Contra

Bei der Auswertung des Projektes in der Fortbildungsgruppe wurden zunächst zwei gegensätzliche Reaktionen deutlich:

Vor allem die Männer fühlten sich in ihrer eher zulassenden Haltung bei „Rangeleien“ und riskantem Verhalten bestätigt. Zwei der vier Beteiligten erzählten, dass sie selbst in diesem Alter in Raufereien verwickelt waren. Männer und Frauen der Gruppe erinnerten sich an lustvolle Schneeball-, Kienäpfel-, Schlamm- Wasser- Kissenschlachten. Herrlich!

Kritisch wurde bemerkt, dass eine „Rauf-Ag“ kein Allheilmittel gegen Mobbing und Aggressivität sein kann. Auch dass nicht jedes Kind darauf anspricht und dass manche Eltern und Kolleginnen Kampfspiele grundsätzlich ablehnen würden. An dieser Stelle kamen die Ängste der Erwachsenen zu Sprache: Wovor haben sie Erwachsenen Angst? Was kann passieren, wenn es schützende Regeln gibt und die Kinder selbst ihre Regeln bestimmen und aufeinander achten?

Dennoch wurde der Erfolg der Kollegin anerkannt. Und wir versuchten zu verstehen, weshalb dieses Angebot bei den Kindern so großen Anklang gefunden hat.

Das Geheimnis des Erfolges

Offenbar hatte die AG mehrere Bedürfnisse der Kinder dieses Alters angesprochen: Das Bedürfnis nach Bewegung, Geschicklichkeit und Körpererfahrung.

Im Alter vor der Pubertät ist Bewegung für den Muskelaufbau und das emotionale Gleichgewicht unerlässlich. Zu viele Kinder bewegen sich aber zu wenig. Unterschwellig haben sie aber Bewegungshunger, den sie andauernd beherrschen sollen. Das führt zu Stress, Unruhe, Aggressivität, oder zu Müdigkeit, Lustlosigkeit und Erschöpfung.

Im Unterschied zu anderen Spielen und Wettkämpfen dieses Alters ist Ringen eine intensivere Körpererfahrung. Wie stark, geschickt, widerstandsfähig oder empfindlich bin ich? Wie ist es bei anderen? Sind Jungen und Mädchen gleich?

Damit ist das Bedürfnis nach Begegnung, Auseinandersetzung und Vergleich mit Gleichaltrigen angesprochen. Die Isolation während der Lockdowns hat uns leider sehr eindrücklich gezeigt, wie wichtig der Umgang mit anderen Kindern für das seelische Wohlbefinden ist. Wenn Große Kinder zusammen sind, spielen Gefühle eine wichtige Rolle. Damit üben die Kinder, mit negativen und positiven Gefühlen, bei sich selbst und bei anderen umzugehen. Mit Provokationen, Sticheleien und Rangeleien versuchen sie zu klären, was möglich ist, und was zu weit geht. In der körperlichen Auseinandersetzung sind Grenzen am direktesten und eindeutigsten zu spüren. Beim Ringkampf nach Regeln ist es wichtig, sich zu beherrschen, aber auch das Empfinden und Befinden des Gegners zu spüren und darauf zu reagieren. Das schult die soziale Kompetenz.

Unterschwellig spielte vielleicht auch die in diesem Alter wichtige Identitätsfrage eine Rolle: Was bedeutet es Junge bzw. Mädchen  zu sein? Oder keins von beiden, oder beides? Sind wir wirklich so verschieden – oder stimmt etwas mit den Zuordnungen nicht?

Der Zuspruch der AG lag aber wohl vor allem daran, dass den Kindern das erlaubte „Raufen“ großen Spaß gemacht hat. Spaß wirkt stressmindernd, tut gut und macht gute Laune. Und diese strahlte auf die Stimmung im Hort und im Klassenzimmer aus.

Eine wichtige Grundlage für den Erfolg der AG lag aber an der Art und Weise, wie die Erzieherin ihr Projekt angegangen ist und umgesetzt hat:

Aus ihrem Vorwissen heraus, dass schlechte Stimmung mit unterdrückten Bedürfnissen zusammenhängen können, hat die Erzieherin diesen Bedürfnissen Raum gegeben. Die Strukturen und Regeln sowie Ihre Anwesenheit bei den Kämpfen gab den Kindern (aber auch den besorgten Kolleginnen) Halt und Sicherheit.

Entscheidend aber war, wie sie die Anliegen der Kinder gehört, ernst genommen, aufgegriffen und im Team vertreten hat. Sie hat den Kindern vertraut und ihnen Verantwortung übertragen. Sich ernst genommen zu fühlen und beteiligt zu werden, ist in diesem Alter ein wichtiger Baustein für die Persönlichkeitsentwicklung.

Guter Ganztag aus Sicht der Kinder

Selbstverständlich gibt es viele andere Wege, die Belange von Kindern aufzugreifen und Bedürfnissen, die sie in ihrem Alltag nicht ausreichend befriedigen können, einen angemessenen Raum zu geben. Das ist einer der wichtigsten Argumente für einen guten Ganztag im Interesse der Kinder.

Die Rückmeldungen, die ich in vielen Fortbildungen von Pädagoginnen und Pädagogen erhalten habe, führten letztendlich dazu, dass Kinder in einer wissenschaftlichen Studie direkt zu ihren Erfahrungen im Ganztag befragt werden konnten (Walther, Nentwig-Gesemann, Fried, 2021)

Die Studie hat mehrere Qualitätsbereiche ermittelt, die aus Sicht der Kinder einen guten Ganztag ausmachen.

Unter anderen werden diese Bereiche genannt, die den Erfolg der „Rauf-AG“ bestätigen:

  • In Konfliktsituationen von Pädagog*innen begleitet werden, die verständnisvoll und fair intervenieren und Strategien für ein friedliches und demokratisches Miteinander etablieren
  • An der Gestaltung des Ganztages beteiligt sein, mitreden und mitbestimmen.
  • ‚Wild‘ spielen: sich gegenüber anderen behaupten, mit anderen messen und in der Gruppe selbst tragfähige Regeln entwickeln (besonders Jungs)
  •  (Noch) Verbotenes tun und Grenzen austesten.
  • Sich in riskanten, herausfordernden Bewegungsaktivitäten und (kompetitive) Bewegungsspielen erproben.

Wenn Erwachsene verstehen, dass „nervendes Verhalten“ auf unterschwelligen und ungestillten Bedürfnissen beruhen kann, und sie entsprechende Freiräume innerhalb von definierten Grenzen öffnen, wird sich das positiv auf die Stimmung und das Verhalten der Kinder auswirken. Und das kann dann auch entlastend auf die Lehrkraft und den Unterricht ausstrahlen.

Literatur:

Enderlein, O. (2023):  Alsterstypische Lebensthemen und Bedürfnisse von „Großen Kindern“ und ihre Bedeutung für die Entwicklung. In: Plehn, M.: Qualität in Ganztag, Hort und Schulkindbetreuung. S.110-128, Herder

Enderlein, O. (2022 ): Große Kinder, die aufregenden Jahre zwischen 6 und 13. DTV

Enderlein, O. (2015): Schule ist meine Welt, Ganztagsschule aus Sicht der Kinder DKJS (Hrsg.) Themenheft 08

Hansen, J., Neumann, C. & Hanewinkel, R. (2024). Gesundheit und Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in

Deutschland – Ausgewählte Ergebnisse des Präventionsradar 2023/2024. IFT-Nord (Hrsg.), Kiel.

Walther, B./ Nentwig-Gesemann, I./Fried, F. (2021): Ganztag aus der Perspektive von Kindern im Grundschulalter. Eine Rekonstruktion von Qualitätsbereichen und -dimensionen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.

Bezüge zu Annedore Prengel

Annedore Prengel und ich sind uns vor vielen Jahren im Rahmen der Universität Potsdam begegnet. Als Entwicklungspsychologin liegen mir besonders die Belange von Großen Kindern“ (ca sechs bis zwölf Jahre) am Herzen. Das passte zu Annedores Forschungsschwerpunkt. So hat sie mich von Anfang an in die Reckahner Konferenzen und in die Erarbeitung der Reckahner Reflexionen einbezogen. Das waren und sind immer ganz besonders bereichernde und inspirierende Tage.