Traut euch und sprecht es an! Beobachtungen in schulischen Praxisphasen des Lehramtsstudiums

Published by AP on

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

(Stefanie Bosse, November 2024)

Viele Lehramtsstudierende beschweren sich darüber, dass das Studium zu theoretisch sei und zu wenig Anwendungsbezug hergestellt wird. Daher sind Praktika nicht nur eine willkommene Ablenkung zwischen Vorlesungen und Seminaren, sondern es wird eine große Hoffnung damit verbunden, im Alltag der Schule die wirklich relevanten Dinge zu lernen. Neben vielen positiven Aspekten ergibt sich allerdings auch ein Problem infolge von Praxiseinsätzen in der Schule. Die dort gemachten Erfahrungen werden viel zu selten professionell besprochen. Wenn Studierende eigene Unterrichtsversuche durchführen, dann erhalten sie in der Regel eine Rückmeldung dazu, was verbesserungswürdig sei und was schon gut gelungen ist (Gröschner & Hascher, 2022). Doch – und hier scheint sich wirklich eine Lücke zu zeigen – wenn Studierende nicht selbst unterrichten, sondern in der Rolle der Beobachtenden sind, dann erfolgt vergleichsweise selten eine professionelle Einordnung der Erlebnisse. Die Transferleistung von erlernter Theorie auf die erlebte Praxis und nach Möglichkeit auch umgekehrt muss von den Studierenden in der Regel selbst erbracht werden. Sollten wir sie dabei nicht besser unterstützen?


Wer muss eigentlich qualifiziert werden?
Insbesondere bei längeren Praxisphasen begleiten Lehrkräfte als Mentorinnen die Studierenden. Üblicherweise werden die Lehrkräfte vorab qualifiziert, um die Studierenden im Hinblick auf die Unterrichtsplanung und –gestaltung und die Berufsanforderungen beraten zu können. Im Grunde müssten aber auch die Studierenden für die Mentoring-Beziehung mit einer Lehrkraft im Praktikum qualifiziert werden (Arnold, Hascher, Messner, Niggli, Patry & Rahm, 2010). Das klingt merkwürdig! Die Studierenden müssen sowieso ständig etwas lernen und es soll diese und jene Kompetenz ausgebildet werden. Reflexionskompetenz steht ohnehin in allen Studiencurricula. Das Reflektieren soll sich – und jetzt kommt die eigentliche Forderung – nicht nur auf das eigene Handeln beziehen, sondern auch auf das beobachtete Handeln von Lehrkräften in der Schule. Die Studierenden müssen von Anfang an, also vom 1. Semester aufwärts, unterstützt werden Beobachtungen zu reflektieren und diese auch gegenüber den Lehrkräften anzusprechen. Die Reckahner Reflexionen bieten hierfür die perfekte Grundlage.

Einfacher gesagt als getan!

Kürzlich sprach ich mit einer Studentin, die ihre Bachelorarbeit bei mir schreiben möchte. Sie interessierte sich für das Thema „Pädagogische Beziehungen“, eventuell auch im Zusammenhang mit auffälligen Kindern. Ich bestärkte sie in ihrer Themenwahl, unterstrich die Relevanz und verwies auf zahlreiche Quelle von Annedore Prengel und Kolleginnen (Prengel, 2013; Prengel & Piezunka, 2019; Prengel, 2020). Wir diskutierten noch weitere Ideen und ich schlug ihr auch vor, darüber nachzudenken, wie man Studierende im Praktikum begleiten könne, die verletzendes oder respektloses Verhalten von Lehrkräften gegenüber Kindern beobachten. Und vor allem auch, wie man Studierende ermutigen – wenn nicht sogar ermächtigen – könne, die Lehrkraft auf das Fehlverhalten anzusprechen. Ich erzählte ihr von verletzenden Situationen, die meine Studierenden im Praktikum im ersten und zweiten Fachsemester beobachtet hätten. Sie fand dieses Thema auch interessant und dann sagte sie: „Ganz ehrlich, im ersten Semester hätte ich mich niemals getraut irgendetwas zu meiner Mentorin zu sagen.“


Scheinbar macht es auch einen Unterschied, in welcher Phase sich die Lehramtsstudierenden befinden. Zu Beginn des Studiums traut sich offensichtlich kaum jemand kritische Themen anzusprechen. Diese Vermutung wollte ich validieren und befragte eine Gruppe von knapp 110 Lehramtsstudierenden im 1. Fachsemester in der Primarstufe. Konkret sollten sie schriftlich beantworten, ob sie sich trauen würden im Praktikum mit einer Lehrkraft über positive oder vermeintlich neutrale Aspekte zu sprechen: persönliche Entwicklungsmöglichkeiten im Beruf, Umgang mit Eltern, Umgang mit Belastungen im Beruf, Stimmung im Kollegium. Bis auf die Stimmung im Kollegium, die nur von ca. 40 % angesprochen würde, lagen die Zustimmungswerte bei über 85 %. Interessant wurde es bei negativen Situationen. Nur knapp die Hälfte der Studierenden würde sich trauen die Lehrkraft anzusprechen, wenn diese vorher ein Kind im Unterricht bloßgestellt hat. Ähnlich verhielt es sich, wenn ein weinendes Kind nicht von der Lehrkraft getröstet wird. Wenn ein Kind rassistisch beleidigt wird, würden Dreiviertel der Studierenden dies ansprechen. Interessanterweise änderten sich die Einschätzungen nach einem Hospitationspraktikum, das jeden Mittwoch semesterbegleitend stattfand, nicht. Und das, obwohl wir in den begleitenden Lehrveranstaltungen mehrfach über die Reckahner Reflexionen gesprochen haben sowie auch darüber, wie man kritische Themen ansprechen kann und es dazu auch einen kurzen Leitfaden gab.


Und jetzt?
Gute Frage! Hinzu kommt noch, dass eine Lücke zwischen dem Würden-Sie-was-sagen-Fragebogen und tatsächlich erlebten Situationen klafft. Insbesondere in mündlichen Gesprächen, wenn die Studierenden verletzende und teilweise einschüchternde Situationen geschildert haben, wurde dies gegenüber den Mentorinnen kaum angesprochen. Einzelne Studierende waren regelrecht verzweifelt. Sie wussten, dass ein Schweigen nicht richtig war, besonders gegenüber den Kindern, die bloßgestellt und gedemütigt wurden. Dennoch fühlten sie sich nicht in der Lage sich gegenüber einer in ihren Augen hierarchiehöheren Person kritisch zu äußern. Das Schulpraktikum wird aus diesem, bislang auch in der Forschung wenig betrachteten Grund, zur Herausforderung. Anlaufstellen, die helfen, mit Diskriminierungen umzugehen (z. B. ADAS – Anlaufstelle Diskriminierungsschutz an Schulen), können hier eine Hilfe darstellen. Darüber hinaus sollten Kooperationsverträge zwischen Schulen und Universitäten geschlossen werden. Diese sollten dann nicht nur organisatorische Praktikumsregelungen, sondern auch Schutzkonzepte beinhalten. Die befragten Studierenden waren im Mittel 21 Jahre alt und im 1. Fachsemester. Gut die Hälfte war erst 18 bzw. 19 Jahre alt. Wie kann man diese jungen Studierenden ermutigen die Schulbeobachtungen bei ihren Mentorinnen anzusprechen? Auf der Suche nach Handlungsempfehlungen, Ratgebern und Hinweisen für Studierende, die Verletzungen in pädagogischen Beziehungen im Praktikum beobachten, fand ich bislang: nichts! Es scheint, als sei das ein blinder Fleck. Vielleicht (bzw. hoffentlich) reagieren Menschen auf diesen Blogbeitrag und schreiben: Doch, ich kenne da etwas! Denn dass das Problem klein bzw. unbedeutend ist, fällt mir schwer zu glauben.
Die eingangs erwähnte Transferleistung der Studierenden setzt eine Reflexionskompetenz voraus, die im besten Fall in Handlungen mündet. Hierfür müssen Studierende unterstützt, ja qualifiziert werden. Der im Titel mitschwingende Appell „Traut euch und sprecht es an!“ reicht im Grunde nicht aus, die Studierenden benötigen „Handwerkszeug“ und Strategien dafür. Das passende Instrument zum Erkennen und Gestalten guter pädagogischer Beziehungen gibt es glücklicherweise schon: die Reckahner Reflexionen! Hier gilt es anzusetzen und Reflexions- und Handlungskonzepte für die Praxiseinsätze von Studierenden zu entwickeln, die ihre persönliche und professionelle Entwicklung von Studienbeginn an stärken.


Literatur:
ADAS – Anlaufstelle für Diskriminierungsschutz an Schulen (2024). Meld dich! Mach was! Verfügbar unter: https://adas-berlin.de/
Arnold, K. H., Hascher, T., Messner, R., Niggli, A., Patry, J. L. & Rahm, S. (Hrsg.). (2010). Empowerment durch Schulpraktika. Perspektiven wechseln in der Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Gröschner, A. & Hascher, T. (2022). Praxisphasen in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. In M. Harring, C. Rohlfs & M. Gläser-Zikuda (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik, (2. Auflage, S. 706–720). Münster: Waxmann.
Prengel, A. (2013). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich.
Prengel, A. (2020). Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen (Pädagogik, 1. Auflage). Weinheim, Basel: Beltz.
Prengel, A. & Piezunka, A. (2019). Zur inklusiven und ethischen Qualität pädagogischer Beziehungen: Zwischen individuellen, kollektiven und universellen Perspektiven. In E. von Stechow, P. Hackstein, K. Müller, M. Esefeld & B. Klocke (Hrsg.), Grundfragen der Bildung und Erziehung. Band I: Grundfragen der Bildung und Erziehung (Band 1, S. 114–122). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Mein Bezug zu Annedore Prengel
Ich kenne Annedore Prengel schon seit vielen Jahren. Im Jahr 2004 war ich selbst Studentin bei ihr in einer Vorlesung und einem Seminar. Damals gab es die Reckahner Reflexionen noch nicht, aber Annedore Prengel forderte alle Studierenden auf nach Reckahn zu fahren. Auch wenn der Weg dorthin etwas umständlich war, das Schulmuseum und das Schloss waren eine Reise wert. Für mich sogar so sehr, dass ich mich zunehmend mehr mit Vielfalt und Heterogenität in der Pädagogik auseinandersetzte. Schließlich durfte ich auch bei der Entstehung der Reckahner Reflexionen dabei sein. Ich habe von Annedore gelernt, dass es in (pädagogischen) Beziehungen nicht um Perfektion geht, sondern dass es „genügend gut“ sein soll – eine Formulierung, die mich seitdem in allem begleitet.
Von Herzen alles Liebe zum Geburtstag, liebe Annedore!