Vertrauen und Zutrauen – Unterstützung von Lernen und Agency im Schulkontext
(von Natalie Fischer, November 2024)
Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel
Die Schule der Zukunft fördert Agency
Im Zusammenhang mit der rasanten Entwicklung von Technologien und gesellschaftlichen Herausforderungen nimmt die Diskussion um Ziele schulischer Bildung an Fahrt auf. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, wie Kinder und Jugendliche darauf vorbereitet werden können, sowohl das gesellschaftliche als auch ihr eigenes Wohlergehen in einer sich verändernden Welt zu sichern (OECD, 2019). Die Schule soll demnach auf die Übernahme sozialer Verantwortung vorbereiten und die Bereitschaft für lebenslanges Lernen fördern. Daher geraten neben fachlichen Kompetenzen auch überfachliche Fähigkeiten, Haltungen und Werte stärker in den Blickpunkt.
In diesem Zusammenhang wurden, neben den PISA-Erhebungen, internationale Vergleichsstudien zu sozialen und emotionalen Kompetenzen eingeführt (bisher ohne deutsche Beteiligung, OECD, 2021, 2024). Die Ergebnisse untermauern die Wichtigkeit emotionaler, motivationaler und sozialer Fähigkeiten für Schulerfolg, Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit. Insbesondere Neugier, also Offenheit für neue Ideen und Lerninhalte, ist bedeutsam für den Schulerfolg und schulische Ambitionen. Sie ist eng verknüpft mit der Überzeugung, sich aus eigener Kraft weiterentwickeln und dazu lernen zu können (‚growth model‘) und daher eine wichtige Voraussetzung für lebenslanges Lernen.
In Bezug auf das psychische Wohlbefinden und soziale Beziehungen spielt dagegen das Vertrauen, also die Annahme, dass bedeutsame Andere (u. a. Lehrpersonen) prinzipiell wohlwollend sind, eine wichtige Rolle. Dies ist wiederum verknüpft mit der Verantwortungsübernahme, für deren Förderung zunächst Verantwortung abgegeben werden muss. Entsprechend steht im ‚Lernkompass 2030‘ die Entwicklung von ‚Agency‘, definiert als eigenständige Gestaltungs- und Handlungskompetenz, im Mittelpunkt. Das Erleben von Handlungswirksamkeit in diesem Sinne beinhaltet eine hohe Motivation, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit sowie soziale Kompetenzen.
Die Entwicklung von Agency bedarf unterstützender sozialer Beziehungen (‚Co-Agency‘). Co-Agency bedeutet auch, dass Lehr- und Fachkräfte in die Lernenden vertrauen bzw. ihnen etwas zutrauen, nämlich die Übernahme von Verantwortung für das eigene (fachliche und überfachliche) Lernen. In diesem Sinne definiert die OECD Agency auch als positive Überzeugung in Bezug auf Willen und Fähigkeiten der Schüler:innen (Abb. 1).
Zutrauen in Kinder und Jugendliche ist für die Förderung von Agency unerlässlich
Ein hohes Zutrauen in die Lernenden fördert zugleich gegenseitiges Vertrauen in der pädagogischen Beziehung und damit auch das Wohlbefinden. Da Lehr- und Fachkräfte in schulischen Kontexten die machtvollere Position haben, sollten sie Kindern und Jugendlichen mit einem Vertrauensvorschuss begegnen (Schweer, 2017). Wenn der Unterricht Gelegenheiten zur Verantwortungsübernahme und Partizipation bietet, können Lernende leichter ein vertrauensvolles Verhältnis zur Lehrperson entwickeln und sich in der Schule als handlungswirksam erleben.
Vertrauensvolle pädagogische Beziehungen, so zeigen internationale Studien, sind für beide Seiten gewinnbringend. Sie hängen mit niedrigerer Belastung der Lehr- und Fachkräfte sowie mit höherem Engagement und besserem Sozialverhalten der Schüler:innen zusammen und schaffen somit einen lernförderlichen Kontext (zsf. Fischer & Richey, 2021). Die Unterrichtsgestaltung sollte es erlauben, selbstständig und in sozialer Ko-Konstruktion nachhaltig Wissen, Kompetenzen und die eigene Identität zu entwickeln (ebd.). Interessant sind in diesem Zusammenhang die Prinzipien eines autonomieunterstützenden Unterrichts (Ryan & Deci, 2017), der durch Unterstützung des Erlebens von Autonomie, Kompetenz und sozialer Eingebundenheit stärkt, und empirisch Beziehungsqualität, Lernmotivation und Selbstwirksamkeit fördert
Vertrauen und Autonomieunterstützung sind also wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung von Agency. Allerdings sprechen (nicht nur) die Resultate der oben genannten international vergleichenden Studien dafür, dass sowohl Vertrauen in Erwachsene als auch Motivation und Neugier im Jugendalter abnehmen. Gleichzeitig verändert sich zwar die Art der Beziehung zu Lehrpersonen, sie ist aber weiterhin bedeutsam für Lernmotivation und Schulzufriedenheit. Die negativen Entwicklungen werden u.a. damit in Zusammenhang gebracht, dass die Unterrichtsgestaltung in weiterführenden Schulen eine mangelnde Passung zum im Jugendalter wachsenden Autonomiebedürfnis aufweist (‚stage environment fit‘). So stellt sich die Frage, ob Schüler:innen Neugier und Vertrauen gar im Laufe der Schulzeit ausgetrieben werden.
Lehr- und Fachkräfte können Agency fördern oder beeinträchtigen
Für die Förderung von Agency ist eine entsprechende Haltung der Co-Agents bedeutsam. Lehrpersonen unterscheiden sich hinsichtlich der Überzeugung, dass Kinder und Jugendliche generell wohlwollend, motiviert, engagiert, zuverlässig und lernfähig sind. Lehrkollegien, die in diesem Sinne ein höheres Zutrauen in die Lernenden zeigen, sind weniger mit Burnout belastet und ihre Schüler:innen erbringen bessere Leistungen, die zudem weniger an die soziale Herkunft der Lernenden gekoppelt sind (Goddard et al., 2009; van Maele & van Houtte, 2011; 2015). Dies könnte damit zusammenhängen, dass eine solche Haltung eher mit der Realisierung eines autonomieunterstützenden Unterrichts einhergeht, der wiederum mit positiver Beziehungsqualität assoziiert ist.
Insgesamt gelingt es Lehr- und Fachkräften durchaus häufig, positive pädagogische Beziehungen zu realisieren. Allerdings ergeben Analysen der Feldvignetten aus der INTAKT-Studie, dass ca. jede fünfte Interaktionen seitens der Lehrperson verletzend ist (Prengel et al., 2016) und rund ein Viertel der Lehrkräfte immer wieder verletzend handelt (Wysujack, 2020). Retrospektive Angaben von Lehramtsstudierenden und Lehrpersonen unterstreichen die Bedeutung verletzender und anerkennender Interaktionen in Bezug auf die Handlungswirksamkeit und Motivation (zsf. Fischer & Richey, 2021).
Interaktionen in Lern- und Leistungssituationen sind zentral für die Entwicklung von Agency
Insgesamt besteht relative Einigkeit darüber, dass die Abnahme von schulischem Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit vom Kindes- ins Jugendalter mit Erfahrungen in Bewertungssituationen verknüpft ist. Der Umgang mit Lern- und Leistungssituationen und entsprechende Rückmeldungen der Lehrkräfte sind zentral für die Entwicklung von Agency und das psychische Wohlbefinden. Dies untermauern Beispiele, die Wolfgang Vogelsaenger (2022) im Rahmen der Biographiearbeit mit Lehramtsstudierenden gesammelt hat (Abb. 2 und 3). So ist das Vertrauen im Klassenzimmer eng verknüpft mit dem Fehlerklima im Unterricht. Wenn Lernprozess und Leistungserfassung getrennt werden und Fehler als wichtiger und durchaus erwünschter Teil des Lernprozesses gesehen werden, kann sich das positiv auf Motivation und Selbstkonzept auswirken (z. B. Tulis et al., 2018). Dagegen führt ein Unterricht, in dem Fehler übergangen werden oder Anlass für Bloßstellung sind, zu Angst und unproduktiver Scham (Oser & Spychinger, 2005). Leider kommt es gerade im Kontext der Leistungsbewertung immer wieder zu verletzenden Handlungen von Lehrpersonen, die dazu führen, dass Kinder und Jugendliche an Selbstvertrauen verlieren und sich nicht als wirksam erleben (können). Das Erleben von Agency wird so verhindert (Abb. 2).
Die Forschung zu Lehrkrafterwartungen untermauert dagegen, dass Verhalten und Äußerungen von Lehrkräften, die von Zutrauen in die Lern- und Leistungsfähigkeit der Lernenden zeugen, Motivation und Selbstwirksamkeit steigern können (zsf. Fischer & Richey, 2021). Mit der Würdigung von individuellen Stärken, Fortschritten und Bemühungen zeigen Lehrpersonen, dass sie den Lernenden etwas zutrauen und legen so den Grundstein für das Erleben von Handlungswirksamkeit.
Fazit: Agency in der Schule und der Ausbildung von Lehrpersonen fördern
Die Zusammenschau der Forschungsergebnisse legt nahe, dass Vertrauen und Zutrauen in die Schüler:innen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung von Agency und die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen darstellen. Wenn die Schule Kinder und Jugendliche auf zukünftige Anforderungen vorbereiten soll, muss Verantwortung für das eigene Lernen an die Schüler:innen abgegeben werden. Allerdings führt selbstständiges Lernen nicht per se zu mehr Handlungswirksamkeit – hier spielen soziale Beziehungen eine wichtige Rolle. Lehr- und Fachkräfte sollten den Kindern und Jugendlichen vermitteln, dass sie ihnen fachliche und überfachliche Lernerfolge zutrauen. Die Forschung zeigt: Das ist nicht immer der Fall. Die Reckahner Reflexionen bieten eine gute Grundlage für Schule und die Ausbildungsinstitutionen für Lehr- und Fachkräfte, um die Bedeutung pädagogischer Beziehungsgestaltung zu diskutieren.
Obwohl inzwischen bekannt ist, dass verletzende Interaktionen im Unterricht keine Ausnahme darstellen, sind sie forschungsbezogen immer noch ein Tabuthema. In Deutschland hat Annedore Prengel einen großen Beitrag dazu geleistet, dass anerkennende und verletzende pädagogische Beziehungen stärker in den Blickpunkt geraten sind. Dennoch ist insgesamt noch wenig erforscht, warum Lehr- und Fachkräfte den Schüler:innen mehr oder weniger zutrauen und sich entsprechend verhalten. Allerdings sprechen die vorhandenen Studien dafür, dass dies zum Teil durch Information und Interventionen im Rahmen der Aus- und Fortbildung bearbeitet werden könnte.
Interessanterweise wird entsprechendes Fehlverhalten (engl. ‘teacher misbehaviour‘) häufig mit Stress und Belastung in Zusammenhang gebracht. Dies ist in gewisser Weise paradox, da Lehrkräfte, die ein hohes Vertrauen in die Lernenden setzen vergleichsweise wenig von Burn Out betroffen sind und positive Beziehungen zu Schüler:innen als Ressource gelten. Auch eine geringe Selbstwirksamkeit bei den Lehr- und Fachkräften könnte zu verletzendem Verhalten führen (Lewis & Riley, 2009). Einige Lehrende sehen die Ursache von Misserfolg oder störendem Verhalten in schlechten Absichten der Kinder und Jugendlichen und reagieren daher aggressiv (ebd.). Andere nehmen an, dass Lernende strenge Kontrolle benötigen und sie selbst dadurch als Autorität anerkannt werden. Dies kann durch Forschungsergebnisse widerlegt werden, die für die Wirksamkeit eines (gut strukturierten) autonomieunterstützenden Unterrichts sprechen. Zudem zeigt sich, dass Schüler:innen die Autorität von Lehrpersonen eher anerkennen, wenn sie ihnen Vertrauen entgegenbringen (Amemiya et al., 2020)
Letztlich sind Einstellungen und Haltungen von Lehr- und Fachkräften auch abhängig von eigenen biographischen Erfahrungen. Will man Schule ändern, so müssten die angehenden Lehr- und Fachkräfte entsprechende Erfahrungen machen – in der Schulpraxis und der eigenen Ausbildung. Die Förderung von Neugier und Agency ist auch hier ein Desiderat, das noch nicht erfüllt ist. Es muss klar(er) werden, dass es nie um das Abarbeiten eines fachbezogenen Pensums zur Erzielung guter Noten geht, sondern die selbstbestimmte Entwicklung sowohl fachlicher als auch überfachlicher Kompetenzen im Vordergrund steht.
Literatur
Amemiya, J., Fine, A. & Wang, M. (2020). Trust and Discipline: Adolescents’ Institutional and Teacher Trust Predict Classroom Behavioral Engagement Following Teacher Discipline. Child Development, 91, 661–678. https://doi.org/10.1111/cdev.13233
Fischer, N. & Richey P. (2021). Pädagogische Beziehungen für Nachhaltiges Lernen. Stuttgart: Kohlhammer.
Goddard, R. D., Salloum, S. J. & Berebitsky, D. (2009). Trust as a Mediator of the Relationships Between Poverty, Racial Composition, and Academic Achievement: Evidence from Michigan‘s Public Elementary Schools. Educational Administration Quarterly, 45, 292–311. https://doi.org/10.1177/0013161X08330503
Lewis, R. & Riley, P. (2009). Teacher Misbehaviour. In L. J. Saha & A. G. Dworkin (Eds.), International Handbook of Research on Teachers and Teaching (pp. 417–431). Boston: Springer. https://doi.org/10.1007/978-0-387-73317-3_27
OECD (2019). OECD Future of Education and Skills 2030. https://www.oecd.org/education/2030-project/teaching-and-learning/learning/. Abgerufen am 23.06.2024.
OECD (2021), Beyond Academic Learning: First Results from the Survey of Social and Emotional Skills, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/92a11084-en .
OECD (2024), Social and Emotional Skills for Better Lives: Findings from the OECD Survey on Social and Emotional Skills 2023, OECD Publishing, Paris, https://doi.org/10.1787/35ca7b7c-en .
Oser, F. & Spychiger, M. (2005). Lernen ist schmerzhaft. Zur Theorie des Negativen Wissens und zur Praxis der Fehlerkultur. Weinheim: Beltz.
Prengel, A., Tellisch, C., Wohne, A. & Zapf, A. (2016). Lehrforschungsprojekte zur Qualität pädagogischer Beziehungen. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung 34 (2), S. 150-157. https://doi.org/10.25656/01:13936
Ryan, R. M. & Deci, E. L. (2017). Self-Determination Theory: Basic Psychological Needs in Motiva-tion, Development, and Wellness. New York: Guilford Press.
Schweer, M. (2017). Vertrauen im Klassenzimmer. In M. Schweer (Hrsg.), Lehrer-Schüler-Interaktion. Inhaltsfelder, Forschungsperspektiven und methodische Zugänge (3. Aufl., S. 523–545). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15083-9_23
Tulis, M., Steuer, G., & Dresel, M. (2018). Positive beliefs about errors as an important element of adaptive individual dealing with errors during academic learning. Educational Psychology, 38(2), 139–158. https://doi.org/10.1080/01443410.2017.1384536
Van Maele, D. & van Houtte, M. (2011). The Quality of School Life: Teacher-Student Trust Rela-tionships and the Organizational School Context. Social Indicators Research, 100, 85–100. https://doi.org/10.1007/s11205-010-9605-8
Van Maele, D. & van Houtte, M. (2015). Trust in School: A Pathway to Inhibit Teacher Burnout? Journal of Educational Administration, 53, 93–115. https://doi.org/10.1108/JEA-02-2014-0018
Vogelsaenger, W. (Hrsg., 2023). Anerkennung und Missachtung in der Schule – zur Biographie-arbeit von Lehramtsstudierenden. Die Materialwerkstatt, 4 (5). https://doi.org/10.11576/dimawe-5730
Wysujack, V. (2020). Interaktive Handlungsweisen von Lehrpersonen unter anerkennungstheoretischer Perspektive. Berlin: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31256-5
Autorin und Bezug zu Annedore Prengel
Seit 2014 bin ich Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt soziale Beziehungen in der Schule an der Universität Kassel. In diesem Zusammenhang liegt die Zusammenarbeit mit Annedore Prengel thematisch nahe. Ihre Freude über die Einrichtung dieser Professur und das Vertrauen, das sie mir von Anfang an in der Zusammenarbeit entgegenbrachte, sind aber durchaus außergewöhnlich und ein Grund, weshalb ich das Thema Vertrauen für die Festreihe gewählt habe. Durch Zutrauen in andere Menschen und ihre natürliche anerkennende Haltung schafft Annedore es, wie kaum eine andere Person, ganz unterschiedliche Menschen zusammenzubringen, um kooperativ und engagiert für die gemeinsame Sache zu arbeiten. Ich freue mich auf noch viele Gelegenheiten dazu.