Wertschätzendes Handeln in schwierigen pädagogischen Situationen
Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel
(Ulrike Becker, November 2024)
In der Klassen- oder Schulgemeinschaft sollen Kindern und Jugendliche Anerkennung, Toleranz sowie Gleichberechtigung erfahren und lernen. Dies dient ihrer Vorbereitung auf ihre und ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dazu heißt es in §29 d) der UN-Kinderrechtskonvention: „(…) das Kind auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien Gesellschaft im Geist der Verständigung, des Friedens, der Toleranz, der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Freundschaft zwischen allen Völkern und ethnischen, nationalen und religiösen Gruppen sowie zu Ureinwohnern vorzubereiten (…)“ (UN-KRK). Die Anerkennung von Verschiedenheit auf der Basis gleicher Rechte ermöglicht einer Schulgemeinschaft die Vielfalt als Chance zur Weiterentwicklung zu nutzen (Prengel 2016, 2019c, 2020).
Zur Erreichung dieses Ziels ist neben Anerkennung, Toleranz und Gleichberechtigung das Recht auf freie Meinungsäußerung und Beteiligung von Bedeutung: „Jedes Kind hat das Recht, in allen Belangen die es betrifft, seine Meinung zu sagen. Diese Meinung muss dem Alter und der Reife des Kindes entsprechend berücksichtigt werden“ (Art. 12 der UN-KRK).
Im pädagogischen Alltag konkretisiert sich der Anspruch Anerkennung, Toleranz und Gleichberechtigung erfahrbar zu machen, in der Interaktion zwischen Lehrkraft und Kind oder Lehrkraft und Jugendlichem vor allem im wertschätzenden Handeln. Die Kompetenz zum wertschätzenden Handeln vermitteln Lehrkräfte im schulischen Alltag durch ihre Vorbildfunktion, insbesondere in schwierigen pädagogischen Situationen, und indem sie für Kinder und Jugendliche Möglichkeiten schaffen, dies im Umgang mit Erwachsenen und Peers zu lernen und zu leben. Wertschätzendes Handeln sollte bezogen auf schwierige Situationen präventiv, mittelfristig und bezogen auf Notsituationen Schülerinnen vorgelebt und als Kompetenz vermittelt werden. Um dies zu ermöglichen, ist es zunächst nötig, die Sorgen und Nöte von Kindern und Jugendlichen auf auf der Lehrkraft-Kind Ebene und auf der Peer-to-Peer Ebene wie zu verstehen. Hierfür muss es Raum und Zeit sowie Regeln in der Schule geben.
Schwierigen pädagogischen Situationen präventiv begegnen
In der Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülerin bzw. Schüler
Schulprogramm und Schulordnung
In der Prävention kommt dem Schulprogramm und der Schulordnung eine herausragende Rolle zu. Die Schulordnung setzt wie die „Bande“ beim Billardspielen einen Rahmen. Somit zeigt sie Grenzen im Schulleben auf und bietet beim Nichteinhalten von Regeln Wege der Intervention und Wiedergutmachung (Becker 2023, 82-87).
Feedbackgespräche
Hattie beschreibt das Feedback (Hattie 2023) als das wirkungsmächtigste Instrument in der Förderung der Schülerinnen und Schüler. Regelmäßige kurze Feedbackgespräche zwischen Lehrkraft und Kind bzw. Lehrkraft und Jugendlichem im Unterricht können auch hilfreich sein, um
- präventiv Kindern oder Jugendlichen wertschätzend Rückmeldung zu ihrem Verhalten in schwierigen Situationen zu geben und
- als Lehrkraft individuelles Feedback von einer Schülerin oder einem Schüler zu erhalten (Friedrich Jahresheft Feedback 2019).
Beispielswiese kann die Lehrkraft durch das Feedbackgespräch erkennen, dass sich ein Kind durch eine Äußerung der Lehrkraft abgelehnt fühlt.
Beispiel: In Unterrichtsgesprächen im Fach Mathematik ruft die Lehrkraft häufig Mio zuerst auf. Die hat sich dies im Rahmen der Förderplanung vorgenommen, da Mio besonders gute Leistungen zeigt und schon eine Jahrgangsstufe übersprungen hat. Sie möchte sicher sein, ihn nicht zu unterfordern. Mio äußert im Feedbackgespräch, sie würde ihn nur so häufig aufrufen, da sie ihn für einen Streber halte und eine Klasse übersprungen habe. Mit dem häufigen Aufrufen im Unterricht wolle sie ihn vorführen. Deshalb habe er Angst vor dem Mathematikunterricht.
Peer-to-Peer (Becker 2022)
Schwierigen pädagogischen Situationen kann präventiv vorgebeugt werden, in dem durch Regeln und das regelmäßige Zusammenkommen in Gruppen im Rahmen der Klassen- oder Schulgemeinschaft wertschätzendes Handeln von Schülerinnen und Schülern angeregt unterstützt oder vielleicht auch erst ermöglicht wird. Dazu gehört die Anwendung der Regeln einer anerkennenden Sprache und die Verankerung von Orten und Zeiten zur „Sharing Experience“ im Schulalltag
Regeln einer anerkennenden Sprache (Prengel 2017)
-Ich spreche nur in “Ich-Form“ (Becker 2022)
-Ich nutze die „Stop-Regel“ (Becker 2022)
Sharing-Experience (Becker 2022)
- Morgenkreis
- Klassenrat
- Ankommenszeit
- Arbeit mit dem „Reckahner Regelbüchlein“
Vom Reckahner Arbeitskreis für Menschenrechtsbildung wurde in dreijähriger Arbeit das „Reckahner Regelbüchlein für große und kleine Kinder – Leben und Lernen mit Kinderrechten“ entwickelt. Es knüpft an die „Reckahner Reflexionen – Zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ an (Prengel 2017, Prengel 2020). Bei den Reckahner Reflexionen handelt es sich um Leitlinien für pädagogisches Handeln, die die wechselseitige Achtung der Würde aller Mitglieder von Schulen und Einrichtungen stärken sollen. Die Leitlinien regen zur Reflexion an und dienen als Orientierung für dauerhafte professionelle Entwicklungen auf der Beziehungsebene in pädagogischen Einrichtungen. Das Regelbüchlein dient der Menschenrechtsbildung und der demokratischen Erziehung. Es enthält zwölf Regeln, die von jeder Schulklasse oder Schulgemeinschaft, die damit arbeitet, ergänzt werden kann (Prengel/Maywald 2020, Prengel 2020). Das Regelbüchlein steht zum Download bereit und kann dort auch bezogen werden (Prengel/Maywald 2020). Es eignet sich zur Arbeit mit Schulklassen an Regelverletzungen (Becker 2023, 76).
Wertschätzendes Handeln in schwierigen Situationen planen, organisieren und realisieren
Maßnahmen zur Unterstützung von Kindern oder Jugendlichen, die ihre Sorgen und Nöte in auffälligem Verhalten ausdrücken bedarf in der Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülerin
- der regelmäßigen Fallberatung oder Supervision im multiprofessionellen Team.
Supervision im multiprofessionellen Team ermöglicht das Verstehen der Kinder und Jugendlichen und schafft die Voraussetzung für wertschätzendes pädagogisches Handeln.
In allen Bundesländern gibt es auf Nachfrage Angebote für Fallberatung oder Supervision für Lehrkräfte. Oftmals haben aber Lehrkräfte, die sehr schwierige Situationen im Unterricht erlebt haben, nicht die Kraft, sich über diese Angebote zu informieren und sie wahrzunehmen. Erfolgt keine kritische Reflexion des Handelns der Lehrkraft kann es zu Segregationsprozessen von Kindern oder Jugendlichen kommen. Es ist wichtig, Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften regelmäßig Fallberatung oder Supervision anzubieten. Diese sollte extern moderiert werden. Die Termine sollten in der Jahres- und Wochenpläne der Schule festgelegt sein. Durch Rhythmisierung in der ganztägigen Schule können dafür Zeitfenster geschaffen werden.
Im wöchentlichen Arbeitsplan der Lehrkräfte und der pädagogischen Fachkräfte fest verankerte Fallberatung oder Supervision hat einen Fortbildungseffekt, dient der Gesundheit der Lehrkräfte (Hehn-Oldiges 2024) und steigert die Kompetenz von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften in schwierigen Situationen wertschätzend zu handeln. Das im wöchentlichen Arbeitsplan fest verankerte Angebot schafft außerdem Vertrauen im Team und verbessert auch zwischen den Terminen kollegiale Unterstützung im schulpraktischen Arbeiten.
- der regelmäßigen Einzelsituation (Spiel oder Gespräch) zwischen einer Klassenlehrkraft und einer Schülerin bzw. einem Schüler, der oder die als besonders schwierig erlebt wird.
Bei jüngeren Schulkindern hat sich bewährt, dass die Klassenlehrkraft täglich fünf Minuten vor dem Unterricht oder zu Beginn der Pause mit dem Kind ein Spiel spielt (z.B. Tierdomino). Hierbei handelt es sich um ein Ritual, das dazu beitragen kann, dass sich das Kind der Lehrkraft nahe fühlt und aufgrund der Regelmäßigkeit Ängste reduzieren kann. Im Unterricht im Klassenverband kann das regelmäßige Spielen in Einzelsituationen dazu beitragen, dass es sich auch in der Gruppe der Lehrkraft nahe fühlen kann und diese Nähe nicht mehr durch Unterrichtsstörungen herstellen muss. Bei älteren Schulkindern oder Jugendlichen bietet sich das wöchentliche Einzelgespräch auf der Grundlage eines pädagogischen Tagebuchs an.
Peer-to-Peer
Kinder und Jugendliche können selbst Verantwortung übernehmen und ihre Mitschüler bzw. Mitschülerinnen bei Konflikten unterstützen. Dies findet regelmäßig auf dem Schulhof und im Klassenraum innerhalb der Peergruppen statt. Wenn Schülerinnen oder Schüler Interesse daran haben, können sie in Arbeitsgruppen im Ganztag oder an Projekttagen dafür qualifiziert werden. Dazu gibt es bereits Programme und Angebote, wie: Die Streitschlichter, Buddyprogramme, Leitung eines Klassenrats, Moderation einer Assembly oder eines Schülerparlaments (Prengel 2020b).
In Einzelschulen hat sich bewährt, dass die Schulsprecher bzw. Schulsprecherinnen einmal wöchentlich in einer Pause eine Sprechzeit für Peers anbieten. Oftmals trauen sich Schülerinnen oder Schüler in diesem Setting Konflikte zu thematisieren, die sie gegenüber Erwachsenen nicht anzusprechen wagen. Hier besteht noch Bedarf an einem Qualifikationsangebot für gewählte Schulsprecher bzw. Schulsprecherinnen.
Wertschätzendes Handeln in Notsituationen
In der Interaktion zwischen Lehrkraft und Schülerin bzw. Schüler
In allen Bundesländern werden Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften sogenannte „Notfallordner“ als Leitfäden für das Handeln in Krisensituationen zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus gibt es schulpsychologische Unterstützung in Krisenordner Gewaltsituationen.
In Ergänzung dazu wurden Instrumente zur Erzeugung eines „Cuts“ in Konfliktsituationen entwickelt (Becker 2023). Die Anwendung dieser Instrumente sichert, dass sich Lehrkräfte an Grundsätze des wertschätzenden pädagogischen Handelns, wie sie in den Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen dargestellt werden (Prengel 2017), halten können. Die „Cuts“ wurden erarbeitet um Notsituationen, in denen sich Schülerinnen und Schüler aggressiv gegenüber Lehrkräften oder pädagogischen Fachkräften verhalten, deeskalieren und beenden zu können.
Somit dient die Anwendung der vorgestellten Instrumente zur Erzeugung eines „Cuts“ in schwierigen Situationen dem Schutz der Schülerin bzw. des Schülers sowie dem Selbstschutz der Lehrkraft (Becker 2023, 31).
Literatur
Becker, U. (2022): Das Vertraute im Fremden sehen. In: Friedrich Verlag: Geflüchtete willkommen heißen, 24-28. Opladen: Barbara Budrich Verlag.
Becker, U. (2023): Auffälliges Verhalten in der Schule. Barbara Budrich Verlag.
Hehn-Oldiges, T. (2024): Wege aus Verhaltensfallen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
Prengel, A. (2016): Bildungsteilhabe und Partizipation in Kindertageseinrichtungen. München: Deutsches Jugendinstitut e.V./Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF).
Prengel, A. (2017):Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. Reckahn: Rochow-Akademie. Im Internet unter: https://paedagogische-beziehungen.eu (Zugriff am 15.03.2022).
Prengel, A. (2018): Relation. In: Blohm, M./ Brenne, A./Hornäk, S. (Hrsg.): Irgendwie anders. Inklusionsaspekte in den künstlerischen Fächern und der ästhetischen Bildung. Flensburg: Fabrico Verlag, 55-60.
Prengel, A. (2019): Pädagogik der Vielfalt (4. Auflage). Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. Wiesbaden: Springer VS.
Prengel, A. (2019a). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz (2. Auflage). Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich. https://doi.org/10.2307/j.ctvh1dpbj .
Prengel, Annedore (2019b). Pädagogische Ethik – eine Antwort auf seelische Verletzungen. Online unter https://paedagogische-beziehungen.eu/paedagogische-ethik-eine-antwort-auf-seelische- verletzungen/
Prengel, Annedore (2019c): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 4. Auflage. Springer VS.
Prengel, Annedore (2020a): Handreichung für Teams zur pädagogischen Arbeit mit dem „Reckahner Regelbüchlein für große und kleine Kinder“ https://paedagogische-beziehungen.eu/wp- content/uploads/2020/10/ReReKids-Erwachsenen-Leitfaden-14.pdf
Prengel, A. (2020b): Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
Prengel, A./Maywald, J. (2020): Reckahner Regelbüchlein für große und kleine Kinder. Reckahn: Rochow Akademie & Pädagogische Hochscule Steiermark. Im Internet unter: https://paedagogische-beziehungen.eu/regelbuechlein-2/ (Zugriff am 1.04.2023).
Prengel, A. (2021): Auf die Beziehungen kommt es an! Kinderrechte als gemeinsame Basis multiprofessionellen relationalen Handeln. In: Hoffmann, I./Köhler, B. (Hrsg.): verschieden* gleich* gemeinsam. Zusammenarbeit in multiprofessionllen Teams. Frankfurt am Main: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, 7-13.
Prengel, A. (2022): Schulen inklusiv gestalten eine Einführung in Gründe und Handlungsmöglichkeiten. Opladen: Barbara Budrich Verlag.
Kurzvorstellung Prof. Dr. Ulrike Becker:
Sonderpädagogin, Diplompädagogin, außerplanmäßige Professorin in der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Referentin für Grundsatzangelegenheiten der Berliner Grundschulen in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie.
Mit meiner Biografie stehe ich für eine Verbindung zwischen Theorie und Praxis. Ich war als Sonderpädagogin, Lehrerin und Schulleiterin tätig und habe begleitend dazu wissenschaftlich gearbeitet. Seit drei Jahren bin ich im Hauptberuf in der Bildungsverwaltung tätig.
Als Wissenschaftlerin und Expertin für die Förderung von Kindern und Jugendlichen, die als besonders schwierig erlebt werden, leite ich im deutschsprachigen Raum Fortbildungen, halte Vorträge und berate Institutionen im Hinblick auf die Gestaltung der Förderung in Schulen.
Bezug zu Prof. Dr. Annedore Prengel:
Annedore Prengel und ich kennen uns seit Beginn der 80er Jahre aus dem Institut für Sonder- und Heilpädagogik an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in Frankfurt am Main. Sie war dort als Lehrende tätig und ich als Studierende durfte viel von ihr lernen. Wir trafen uns dann Anfang der 2000er Jahre in Potsdam wieder. Aus der Ferne erkannten wir unsere gemeinsamen Frankfurter Wurzeln und genossen die gemeinsamen Dialoge, in denen wir Theorie und Praxis insbesondere unter dem Aspekt der inklusiven Bildung bei Kindern oder Jugendlichen, die von Lehrkräften als besonders schwierig erlebt werden. Annedore Prengel überzeugte mich von und unterstützte mich bei meiner Habilitation an der Universität Potsdam. Ich freue mich sehr, dass ich von Anfang an bei der Expertenkonferenz zur Erarbeitung der Reckahner Reflexionen dabei sein durfte. Im Rückblick erkenne ich, dass diese nicht nur vom Diskurs in Reckahn, sondern auch durch die Frankfurter Schule und die daraus erwachsenen Forschungen und Diskurse stark geprägt sind.
Ich freue mich, dass wir auch heute bei Vorträgen und Publikationen eng zusammenarbeiten, immer, wenn wir uns treffen, sehr spannende Dialoge haben und Annedore Prengel mich überzeugt hat, im letzten Jahr das Buch „Auffälliges Verhalten in der Schule“ in der von ihr, Anne Piezunka, Anke König und Sophia Richter herausgegebenen Reihe: Pädagogische Einsichten – Praxis und Wissenschaft im Dialog zu veröffentlichen.