Wieviel mehr Menschenrechtsbildung benötigen wir in der Lehrkräftebildung?

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(von Susanne Müller-Using, März 2025)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

Was sind die Menschenrechte und wozu dienen sie?

Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ wurde im Jahr 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit 48 Ja-Stimmen und mit 8 Enthaltungen verabschiedet. Die Erklärung bedeutet damit einen Meilenstein in der Nachkriegsgeschichte der internationalen Politik. Laut Aussage des Deutschen Instituts für Menschenrechte ist die Erklärung das am meisten übersetzte Dokument der Welt und sie ist in mehr als 500 Sprachen verfügbar. Darin enthaltene Werte wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde bilden einen breiten internationalen und universellen ethischer Konsens, der als Ergebnis vieler internationaler Arbeitssitzungen und Verhandlungen beschlossen wurde. Eleanor Roosevelt, US-amerikanische Menschenrechtsaktivistin und Witwe des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, leitete den Redaktionsausschuss der Konvention und war gemeinsam mit anderen die treibende Kraft für die Vorbereitung und Annahme des Textes (vgl. DIMR 2024). Die Erklärung beinhaltet neben den 30 Artikeln die bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte ansprechen auch Hinweise auf die Notwendigkeit ihrer Vermittlung durch Bildung:


da ein gemeinsames Verständnis dieser Rechte und Freiheiten von größter Wichtigkeit für die volle Erfüllung dieser Verpflichtung ist, verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal, damit jeder einzelne und alle Organe der Gesellschaft sich diese Erklärung stets gegenwärtig halten und sich bemühen, durch Unterricht und Erziehung die Achtung vor diesen Rechten und Freiheiten zu fördern und durch fortschreitende nationale und internationale Maßnahmen ihre allgemeine und tatsächliche Anerkennung und Einhaltung durch die Bevölkerung der Mitgliedstaaten selbst wie auch durch die Bevölkerung der ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Gebiete zu gewährleisten.“

Die Frage, die sich hieran anschließt ist, ob in der (hoch-)schulischen Bildung ein tieferes Verständnis für die Tragweite und die Achtung von diesen Rechten gefördert werden. Das Bemühen um Menschenrechtsbildung sollte in Bildungseinrichtungen grundsätzlich allgegenwärtig sein, siehe dazu auch Prengel & Winkelhofer 2014.

Menschenrechtsbildung als Aufgabe von Lehrkräftebildung

Eine Studie des Deutschen Instituts für Menschenrechte über Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche zeigt, dass die Umsetzung von Menschenrechtsbildung im Schulsystem bisher kaum erfolgt.
„Im Hinblick auf die schulische Menschenrechtsbildung fehlt im Großteil der Bundesländer bei den Rechtsgrundlagen eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Menschenrechte bei den Bildungszielen und die Benennung von Menschenrechtsbildung als Auftrag von Schule. Menschenrechtsbildung ist auch nur vereinzelt in fachspezifischen oder gar fächerübergreifenden Bildungsplänen auf Landesebene angekommen. Die Empfehlung der KMK von 1980/2000 [neu aufgelegt in der Version von 2018, die Autorin] wartet insoweit immer noch auf vollständige Umsetzung. […] in Bezug auf Bildung durch Menschenrechte ist festzustellen, dass für Schulentwicklungsprozesse sowie die Evaluierung von Schulen und außerschulischen Bildungsinstitutionen bislang nur sehr selten ausdrücklich an Menschenrechte angeknüpft wird.“ (Reitz & Rudolf 2014, 39f.). Auch die Datenerhebungen aus dem interdisziplinären INTAKT-Projekt (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern) zeigen, dass pädagogische Beziehungen immer wieder auch von Ambivalenz und seelischen Verletzungen durchdrungen sind und in der Konsequenz nicht ausreichend von Anerkennung und einer menschenrechtlichen Ethik her bestimmt werden (Prengel 2019, 2020).
Diese Ergebnisse gaben Anlass zu einer weiteren Studie, die den Stand der Menschenrechts-bildung in der universitären Lehrkräftebildung in Niedersachsen und in Costa Rica untersucht hat (Chaves et al 2022). Aus Sicht der Autor:innen dieser Studie besteht im aktuellen globalen Kontext, der durch wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, Kriege, Migration, soziale Ungleichheiten, Diskriminierung und Umweltzerstörung gekennzeichnet ist, neben dem rechtlichen Aspekt, ein klar ersichtlicher Bedarf für einer Lehrerkräftebildung, die den Menschen-rechtsansatz aktiv integriert und verfolgt. Das Ziel der Studie ist es, festzustellen ob und welche Art von Werte- und Menschenrechtsbildung in der Lehrkräftebildung integriert sind und wie sie konkret in den Bildungsgängen umgesetzt werden. Die Studie „Values and Human Rights Education in Higher Teacher Education” wurde unter gemeinsamer Leitung der Universität Osnabrück (UOS), der Universität von Costa Rica (UCR) und der Nationalen Universität von Costa Rica (UNA) durchgeführt. Für die Untersuchung wurde mit finanzieller Unterstützung des Deutschen akademischen Austauschdiensts ein Forschungsdesign entwickelt, das auf Datentriangulation basiert und die Perspektiven der Studierenden sowie der Lehrenden in Bezug auf dieses Thema berücksichtigt.

Ziele und Methoden der Untersuchung:

Ziel der Untersuchung war es, die Vorstellungen und Überzeugungen von Dozierenden und Studierenden zur Werte- und Menschenrechtsbildung in verschiedenen universitäten Niedersachsens (insbesondere der Universität Osnabrück) und von Costa Rica zu erfassen und zu erheben, welche Bedeutung ihr ganz konkret als Teil der Lehrkräftebildung beigemessen wird.
Dafür wurde zunächst eine umfassende Dokumentenanalyse der Lehrangebote der Lehrkräfte-bildungsstudiengänge vorgenommen sowie auch eine Befragung der Studierenden und Dozierenden der Kernfächer der Lehrkräftebildungsstudiengänge durchgeführt sowie Fokusgruppen mit dieser Gruppe der Befragten.

Forschungskategorien für die Befragung mit Fragebögen sowie in den Fokusgruppen:

Um Themen der Werte- und Menschenrechtsbildung vergleichend analysieren und beschreiben zu önnen, wurden die folgenden Kategorien in der internationalen Arbeitsgruppe definiert.


a) Menschenrechte in der Lehrkräftebildung

  • Allgemeine Menschenrechte und Menschenwürde
  • Demokratie, Partizipation und Bürgerschaft.
  • Diversitäten: ethnische, gender, kulturelle, ökonomische, religiöse, sexuelle, etc.
  • Freundschaft zwischen den Nationen
  • Chancengleichheit und Gerechtigkeit
  • Inklusion
  • Umwelt und Umweltbewusstsein.
  • Menschenrechtsgesetzgebung
  • Menschenrechtsbildung und Menschenrechtspädagogik

b) Werte in der Lehrkräftebildung

  • Empathie
  • Ehrlichkeit
  • Fairness
  • Freiheit.
  • Frieden
  • Respekt
  • Solidarität
  • Toleranz

Anhand der Dokumentenanalyse konnte ermittelt werden, welche Werte- und menschenrechtlichen Themen im Lehrangebot der Lehrkräftebildung explizit oder implizit angesprochen werden. Somit konnten Aussagen darüber getroffen werden, inwieweit die für die Menschenrechtsbildung relevante Themen und Werte in der Lehre für die Lehrkräftebildung enthalten sind. Mit Bezug auf die Fragebögen wurden diese zunächst einer Häufigkeitsanalyse der geschlossenen Antworten unterzogen und diese dann gemittelt, um die Interpretation der Daten zu erleichtern. Die offenen Fragen, wie auch die Transkripte der Fokusgruppen, wurden nach den für die Untersuchung definierten Kategorien kategorisiert und ausgewertet.

Zusammenfassung der Ergebnisse insbesondere für den Kontext der Lehrkräftebildungen in Niedersachsen und der Universität Osnabrück

Von den Kategorien der Menschenrechte ist die Kategorie Freundschaft zwischen den Nationen für die Lehrerbildungen der drei Universitäten am wenigsten wichtig. Andererseits halten die Studierenden die Kategorie Menschenwürde und Menschenrechte im Allgemeinen für sehr wichtig, was durch die Gespräche in den Fokusgruppen mit der gleichen Zielgruppe nochmals verstärkt und bestätigt wurde.
In Bezug auf die Berücksichtigung und Integration Menschenrechtsgesetzgebung ist anzumerken, dass laut Aussagen von Studierenden und Dozenten in den Lehrerbildungen kaum Bezug darauf genommen wird, was gleichzeitig mit dem übereinstimmt, was zuvor bei der Analyse von Lehrerbildungscurricula festgestellt wurde.

Grafik 1: Relevanz Menschenrechtlicher Themen in der Lehrkräftebildung (Eigenproduktion Projekt Values and Human Rights, INIE 2021)
Grafik 2: Relevanz menschenrechtlicher Dokumente (Projekt Values and Human Rights, INIE 2021)

Trotz der Tatsache, dass demokratische und menschenrechtliche Werte, die zur Wertebildung beitragen, in den Lehrerbildungscurricula sowie in der Praxis der Lehrkräftebildungen angesprochen werden, wird die Notwendigkeit einer stärkeren Vorbereitung in Wertebildung und die Einbeziehung entsprechender praktischer Inhalte in den Lehrkräftebildungen von den Fokusgruppen thematisiert.
Von Dozenten und Studierenden wird die Auffassung vertreten, dass Aspekte von Menschenrechten und damit zusammenhängenden Inhalten in den Lehrkräftebildungen zwar im Allgemeinen behandelt werden; es wird jedoch hervorgehoben, dass dies stark von Einzelpersonen abhängt und die Lehrerbildung im Bereich der Menschenrechtspädagogik und Menschenrechtsgesetzgebung unbedingt weiter hervorgehoben werden muss. Dies bestätigen auch die Ergebnisse aus den Analysen von Curricula, Kursen und Fokusgruppen.


Die Erfahrungen in Lehrveranstaltungen werden von den Dozierenden insofern positiv bewertet, als sie der Ansicht sind, dass die Studierenden respektvoll behandelt werden, freie Meinungsäußerung erlaubt ist und kooperative Arbeit existiert. Diese Wahrnehmung stimmt mit der der Studierenden überein.
Im Allgemeinen ist die Bewertung hinsichtlich der Förderung der Werte- und Menschenrechtsbildung durch Dozierende positiv, aber nach dem, was in den Fokusgruppen zum Ausdruck gebracht wurde, hängt dies in hohem Maße von dem Dozent ab, der für den Kurs oder das Projekt verantwortlich ist.
In Bezug auf die Thematisierung von Strukturen und Instrumenten zum Schutz und zur Verteidigung der eigenen Menschenrechte und der der Anderen zeigen die Antworten von Studierenden und Dozierenden, dass eine solche Praxis und ihre Inhalte im Rahmen der Lehrerbildungen verstärkt werden müssen, nicht nur als Inhalt, sondern auch als relevanter Aspekt der Menschenrechtsbildung.
Die verschiedenen Praxisprojekte und -erfahrungen, die während der universitären Ausbildung durchgeführt werden, sensibilisieren und bilden die Studierenden im Allgemeinen für die Förderung und Weitergabe von Werten und Menschenrechten in ihrer zukünftigen Unterrichtspraxis.
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass es ein deutlich zu geringes Angebot für eine explizite Werte- und Menschenrechtsbildung im Rahmen der Lehrkräftebildung an den beteiligten Universitäten gibt. Werte werden hier wenn dann eher implizit vermittelt und kommen in den Seminaren im Zusammenhang mit der Menschenrechtsbildung nahestehenden Themen (u.a. Chancengerechtigkeit, Inklusion, Umgang mit Diversität etc.) in Lektüren, Gruppenarbeiten, Diskussionen vor. Es fehlt eine explizite Bildung in den relevanten Menschenrechtsthemen und ihrer Pädagogik, damit sie diese in ihrem zukünftigen Beruf anwenden können.


Für ein tieferes Verständnis der pädagogischen Bedeutung und Tragweite von Menschenrechten ist die Kenntnis der Menschenrechte und ihrer Bildung unabdingbar, daher benötigen wir deutlichere Anstregungen für mehr menschenrechtlich relevante Bildung im Rahmen der universitären Lehrkräftebildung.

Literatur

Chaves Salas, L. / Mora Arias, J. / Müller-Using, S. et al (2022): Investigación: Las experiencias de la Universidad de Costa Rica, la Universidad Nacional y la Universidad de Osnabrück. In: Washburn Madrigal, Stephanie (Ed): La educación en valores y derechos humanos en la educación superior. Un acercamiento filosófico a la Educación en valores y derechos humanos para la formación docente con ejemplos de Alemania y Costa Rica. 1ª edición, San José Costa Rica: INIE 2022, Cap. II, S. 68-221. Online verfügbar: http://repositorio.inie.ucr.ac.cr/handle/123456789/565
DIMR (2024): Vereinte Nationen. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Online verfügbar: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsschutz/deutschland-im-menschenrechtsschutzsystem/vereinte-nationen/vereinte-nationen-aemr.
Müller-Using, S. (2021): Menschenrechte als Maßstab für die Bildung. Ausgangslage, Bedeutungshorizont und Stand ihrer Umsetzung in Bezug auf Schule und LehrerInnenbildung. In: Natarajan, R. (Hrsg): Sprache – Bildung – Geschlecht. Interdisziplinäre Ansätze in Flucht- und Migrationskontexten. Wiesbaden: VS Verlag, 111-133.
Prengel, Annedore (2020): Ethische Pädagogik in Kitas und Schulen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag.
Prengel, Annedore (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. 2. Auflage. Opladen: Barbara Budrich.
Prengel, A. & Winklhofer, U. (Hg.) (2014): Kinderrechte in pädagogischen Beziehungen, Band 1: Praxiszugänge. Band 2: Forschungszugänge. Opladen: Barbara Budrich.
Reitz, S. & Rudolf, B. (2014): Menschenrechtsbildung für Kinder und Jugendliche. Befunde und Empfehlungen für die deutsche Bildungspolitik. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.

Bezüge zu Annedore Prengel


Mit Annedore Prengel verbindet mich vor allem eine gemeinsame Sicht auf Kinder und eine ihnen zuträgliche Pädagogik, die für uns mit einer menschenrechtlichen Ethik einhergeht. Persönlich kenne ich Annedore Prengel seit ich im Jahr 2017 über Dr. Sandra Reitz, vom Deutschen Institut für Menschenrechte zum Arbeitskreis Menschenrechtsbildung in der Rochow-Akademie dazu gestoßen bin; dort habe ich mich inhaltlich-fachlich, geistig und auch seelisch sofort aufgenommen und zu Hause gefühlt.
Aus wissenschaftlicher Sicht waren die theoretischen Grundlagen und Ergebnisse aus dem interdisziplinären INTAKT-Projekt (Soziale Interaktionen in pädagogischen Arbeitsfeldern) auch für meine Arbeiten wegweisend und zur Begründung einer Empathie geleiteten pädagogischen Ethik und Menschenrechtsbildung grundlegend; dabei ist insbesondere Annedores Publikation von 2013 „Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz“ hervorzuheben.
Annedores Arbeiten sowie die des gesamten Arbeitskreises sind ein elementarer Bestandteil des modernen und zukunftsweisenden erziehungswissenschaftlichen Diskurses und auch mit unserer menschenrechtlichen Forschungsgruppe in Costa Rica stehen wir stets in enger Verbindung zu ihnen. Ich schätze an Annedore ihren intellektuellen Feingeist, ihre Menschenfreundlichkeit und Wertschätzung sowie ihren pragmatischen Sinn für Gerechtigkeit und natürlich auch ihren großen Mut ethische Themen in die erziehungswissenschaftlichen Debatten mit einzubringen. Für mich bist und bleibst Du ein wunderbares Vorbild!

Susanne Müller-Using, Prof. Dr., ist Professorin für Philosophie und Bildung an der Escuela de Filosofía der Universidad de Costa Rica in San José, Costa Rica. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind: Bildungsphilosophie, Pädagogische Ethik und Empathieforschung, Werte- und Menschenrechtsbildungsforschung, Kritische Theorie, Digitalisierung und Bildungstransformation.