„Beziehung heißt das Zauberwort“ – Barbara Senckel und Ulrike Luxen
(von Martina Hehn-Oldiges / August 2023) Mit diesem Beitrag wird das Konzept der„Entwicklungsfreundlichen Beziehung“ (EfB) von Barbara Senckel und Ulrike Luxen vorgestellt. Es findet bereits seit vielen Jahren erfolgreich in heilpädagogischen Einrichtungen Anwendung. Das Konzept zeigt Möglichkeiten auf, in der Zusammenarbeit mit Menschen mit kognitiv und/oder emotional bedingten Entwicklungsschwierigkeiten konflikthafte Situationen zu analysieren und pädagogisches Handeln zu erweitern.
Welche Grundannahmen verbergen sich hinter dem Begriff der „Entwicklungsfreundlichen Beziehung“?
Die„Entwicklungsfreundliche Beziehung nach Senckel/Luxen“ (EfB) versteht sich als ressourcenorientiertes Konzept. Es geht davon aus, dass Menschen ihre Potentiale entfalten und sozial kompetente Persönlichkeiten werden können. Dafür benötigen sie von Beginn an stabile, wertschätzende und einfühlsame Beziehungen. Fehlen diese und erfahren wir stattdessen die dauerhafte Verletzung unserer emotionalen Grundbedürfnisse, so erstarren unsere konstruktiven Selbstentfaltungskräfte, die zentralen sozio-emotionalen Entwicklungsaufgaben werden nicht oder nicht hinreichend bewältigt. Diese negativen Auswirkungen können jedoch – in begrenztem Umfang – durch korrigierende Beziehungserfahrungen wieder ausgeglichen werden. Deshalb ist der wichtigste Wirkfaktor – und auch das theoretische und methodische Zentrum der EfB – die Beziehung, die sich am emotionalen Bedürfnisniveau des Gegenübers orientiert: Denn wir gehen in Anlehnung an Martin Buber davon aus, dass der Mensch „am Du zum Ich“ wird.
Das Ziel der EfB besteht darin, Menschen mit Entwicklungsschwierigkeiten – mit und ohne kognitiver Beeinträchtigung – zu einer sichereren Bindung sowie zur Bewältigung der anstehenden Entwicklungsaufgaben, d. h. zur Entfaltung ihrer Potentiale und zu emotionaler Stabilität zu verhelfen.
Zeichen dieser Stabilität sind die „emotionale Konstanz“, d. h. die Fähigkeit, emotionale Schwankungen, die beispielsweise durch Ärger, Wut, Angst, Freude oder Zweifel hervorgerufen wurden, so im Rahmen zu halten, dass die situationsgerechte Handlungsfähigkeit erhalten bleibt und die sozialen Beziehungen unter ihrer Intensität nicht leiden sowie die „Autonomie in sozialer Gebundenheit“, d. h. die Balance von selbstbestimmter Selbstständigkeit und sozial verantworteter Beziehungsfähigkeit. Sie entsteht durch die Entfaltung und Integration der Selbstbestimmungsbestrebungen und der Bindungsbedürfnisse, die aufgrund ihrer Gleichrangigkeit und ihres Spannungsverhältnisses zueinander die menschliche Entwicklung lebenslänglich vorantreiben.
Auf welchen theoretischen Grundlagen basiert das Konzept? Wie ist es entstanden?
Das Konzept ist aus der Praxis entstanden, und zwar aus der Beratung von Studierenden der Heilpädagogik und von pädagogischen Fachkräften als professionelle Bezugspersonen in Schule, Kindergarten und Heimalltag sowie in der therapeutischen Begleitung von zumeist kognitiv beeinträchtigten Menschen mit emotionalen Problemen.
Es basiert auf dem Menschenbild und den Grundannahmen der humanistischen Psychologie – insbesondere in der Spielart von Carl Rogers – sowie auf den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie. Den theoretischen Hintergrund für die kognitive Entwicklung bildet das konstruktivistische Konzept von J. Piaget. Die sozio-emotionale Entwicklung fußt auf der Ich-Psychologie, vertreten von Margaret Mahler, der Bindungstheorie von J. Bowlby und dem Konzept der Entwicklungsaufgaben von E. Erikson.
Aus diesem theoretischen Fundament erwuchs das Konzept des Differenzierten Entwicklungsstandes. Es besagt, dass der Mensch sich oftmals in den verschiedenen Entwicklungsdimensionen (also Emotionalität, soziale Kompetenz, Denken, Sprache, Lebenspraxis, Motorik …) unterschiedlich schnell und weit entwickelt, sodass die Angabe eines allgemeinen Entwicklungsniveaus pädagogisch wenig sinnvoll erscheint. Hilfreich hingegen ist es, sich auf den Entwicklungsstand der einzelnen Dimensionen zu beziehen und ihre Wechselwirkungen untereinander zu beachten.
Der differenzierte Entwicklungsstand bildet die Grundlage für die passgenauen pädagogischen Interventionen und die in der Entwickungsfreundlichen Beziehung angewandten Methoden, die sog. methodischen Eckpfeiler. Dabei sollte die Unterstützung immer zuerst der Dimension gelten, die den größten Nachholbedarf signalisiert.
Können Sie uns Beispiele für die Umsetzung der „Entwicklungsfreundlichen Beziehung“ nennen?
Die EfB ist als Leitkonzept in mehreren Einrichtungen der Behindertenhilfe verankert. Außerdem hat sie inzwischen in einigen Kindergärten und Schulen – auch solchen mit einem inklusiven Konzept – Fuß gefasst. Sie prägt mit ihren methodischen Grundsätzen den pädagogischen Alltag. Beispielsweise verhindert sie in kritischen Situationen eine Eskalation und verhilft den Klienten zu größerer emotionaler Stabilität. Die folgenden Beispiele sollen das gemeinte verdeutlichen.
Der neunjährige Jens ist kognitiv schwer beeinträchtigt aber mobil und lebhaft. Besonders schwierig ist für ihn morgens der Übergang in die Schule. Mit dem Betreten des Klassenzimmers beginnt er zu schreien, herumzulaufen und andere Kinder zu zwicken. Seitdem er von der Lehrerin regelmäßig liebevoll mit einem Kuscheltier begrüßt und an seinen Platz begleitet wird, außerdem das Kuscheltier als „Stellvertreter der Bezugsperson“ (Übergangsobjekt) vor ihm auf seinem Tisch sitzen darf, kann er am anschließenden gemeinsamen Beginn teilnehmen, ohne zu stören.
Dieses Beispiel zeigt die Bedeutung folgender methodischen Grundsätze: ungeteilte wertschätzende Aufmerksamkeit, sorgfältige Gestaltung von Übergangssituationen mit einer liebgewordenen Gewohnheit und Einsatz eines Übergangsobjektes.
Die sechsjährige, kognitiv leicht beeinträchtigte Dina zeigt deutlich Anzeichen einer Traumatisierung. Sie klammert sich extrem an ihre Lehrerin, will sich unter keinen Umständen von ihr trennen, driftet häufig mit ihrer Aufmerksamkeit ab, wirkt wie erstarrt und ist in diesen Situationen kaum ansprechbar. Auf ein Unterrichtsangebot kann sie sich höchstens für ein bis zwei Minuten einlassen. Ihre emotionale Verfassung wechselt teils ohne erkennbaren Anlass von Ausgeglichenheit zu Traurigkeit oder Verzweiflung bei kleinsten Missgeschicken und zu aggressiven Durchbrüchen, wenn sie sich angegriffen fühlt.
Als hilfreich erwiesen sich ein regelmäßig einmal pro Woche stattfindendes entwicklungsfreundliches Einzelangebot und eine intensive Beratung der Lehrerinnen. Den Schwerpunkt der Einzelstunde bildete das beharrliche Ringen um den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung. So galt es über eine lange Zeit hinweg geduldig abzuwarten, bis Dina bereit war, sich aus ihrem vertrauten Setting zu lösen und auf die für sie weniger vertraute Einzelsituation einzulassen. Dieser Prozess gelang umso besser, je mehr er spiegelnd begleitet wurde („Es ist so schwer, jetzt mitzukommen, du weißt nicht genau, was auf dich zukommt…“) und je mehr Zeit ihr gegeben wurde. Zudem war es wichtig, ihr widersprechendes und in sich widersprüchliches Verhalten wohlwollend auszuhalten und ihr immer wieder Brücken zu bauen, um ihr zu vermitteln: Ich bin stabil für dich da. Die Gespräche mit den Lehrerinnen dienten einerseits zu deren emotionaler Entlastung und Selbstreflexion. Andererseits wurden gemeinsam Strategien entwickelt. Konkret wurde vereinbart: Dina wird in ihren Stimmungsschwankungen wohlwollend spiegelnd begleitet, um ihre Selbstwahrnehmung zu verbessern. Die pädagogischen Anforderungen werden ihrer emotionalen Verfassung angepasst. In schwierigen Phasen werden Anforderungen zurückgenommen, um den Leistungsdruck zu senken, bei guter Verfassung hingegen erhöht, um die Leistungsbereitschaft zu wecken. Verliert sie den Kontakt zur Realität, wird sie so schnell wie möglich achtsam in die Wirklichkeit zurückgeholt. Ein fester, auf ihrem Tisch befestigter Tagesplan soll ihr Sicherheit im Alltag vermitteln.
Inzwischen ist Dina ein zumeist ausgeglichenes Mädchen, das sich für eine begrenzte Zeit auf Unterrichtsangebote einlassen kann. Dadurch, dass sie in der Regel emotional präsent ist, profitiert sie vom Unterricht und macht deutliche kognitive Fortschritte. Am erstaunlichsten ist ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Selbstreflexion. Die Anzeichen für eine Traumatisierung sind verschwunden. Nun steht für sie an, einen Platz im Gruppengefüge zu finden.
In diesem Beispiel bewährten sich die bedingungslose positive Zuwendung auch bei schwierigem Verhalten, die Methode des Spiegelns zur Gestaltung der Kommunikation, die Berücksichtigung der emotionalen Verfassung beim Anforderungsniveau und die Anwendung einer entwicklungsfreundlich orientierten Traumapädagogik (Sicherheit im Alltag durch eine feste Struktur, Vermeidung von Flashbacks).
Ein Herzstück der „Entwicklungsfreundlichen Beziehung“ ist das diagnostische Verfahren BEP-KI (Befindlichkeitsorientiertes EntwicklungsProfil für normal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung).
- Wie kann dieses Verfahren eingesetzt werden?
- Sie verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff „normal begabt“. Wie definieren Sie „normale Begabung“?
Mit Hilfe des BEP-KI wird ein Grundsatz der EfB, der differenzierte Entwicklungsstand, konkretisiert. Das heißt, anhand von konkreten Items aus den Bereichen Emotionale Entwicklung, Soziale Entwicklung, Denkentwicklung, Sprachentwicklung (aktiv und passiv) wird der Kompetenzstand in den genannten Dimensionen erhoben, wobei situative und emotionale Bedingungen berücksichtigt werden. Es dient der Förderdiagnostik sowie der Verlaufsdiagnostik und Evaluierung eines pädagogischen oder therapeutischen Prozesses. Es wird in Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Behindertenhilfe angewendet. Die Ergebnisse bilden die Basis für hilfreiche, die Entwicklung fördernde pädagogische Interventionen und in der Behindertenhilfe auch der Planung von Teilhabezielen (Senckel/Luxen: Der entwicklungsfreundliche Blick 2021).
„Normal“ begabt verwenden wir im mathematisch-statistischen Sinn Es handelt sich um einen mathematischen Begriff, nicht um einen regulativen. Er beschreibt die durchschnittliche Begabung von Menschen, orientiert an der Gaußschen Normalverteilung.
Welche Verbindungen sehen Sie zu den „Reckahner Reflexionen – Leitlinien zur Ethik pädagogischer Beziehungen“?
Wir fühlen uns den „Reckahner Reflexionen“ geistig verwandt. Ähnlich erscheint uns die wertschätzende, um achtsamen Umgang mit dem Gegenüber bemühte Grundhaltung, die Ressourcenorientierung und das Vertrauen, dass Menschen selber einen Weg zur Lösung intuitiv kennen, der hohe Stellenwert der Selbstreflexion der pädagogischen Fachkräfte sowie die Bedeutung pädagogischer Beziehungen.
Ulrike Luxen und Barbara Senckel haben gemeinsam das Konzept der„Entwicklungsfreundlichen Beziehung nach Senckel / Luxen“® (EfB) sowie das förderdiagnostische Befindlichkeitsorientierten Entwicklungsprofils für normal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung (BEP-KI) entwickelt.
Gemeinsam gründeten sie die„Stiftung für Entwicklungsfreundliche Diagnostik und Pädagogik“ (SEDiP). Ziel der Stiftung ist u.a. die Entwicklung und Verbreitung von beziehungsorientierten pädagogischen Konzepten sowie die Erforschung der Zusammenhänge zwischenmenschlicher Beziehungen und Entwicklung.
Ulrike Luxen
Studium Katholische Theologie, Latein mit dem Abschluss Lehramt an Gymnasien, Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin (BDP) für Menschen mit und ohne geistige Behinderung, Supervisorin, freiberufliche Fortbildnerin
Barbara Senckel
- Dr. phil., Diplom-Psychologin, Studium der Psychologie, Philosophie
und Germanistik, freiberufliche Dozentin, Psychotherapeutin (GwG, BDP), Supervisorin
Literatur:
- Barbara Senckel: „Mit geistig Behinderten leben und arbeiten“ (Verlag C. H. Beck)
- Barbara Senckel: „Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Beziehung“ (Verlag C. H. Beck)
- Barbara Senckel: „Wie Kinder sich die Welt erschließen“ (Verlag C. H. Beck)
- Barbara Senckel: „Als die Tiere in den Wald zogen – starke Märchen für starke Kinder“ (Verlag C. H. Beck)
- Barbara Senckel, Ulrike Luxen: „Der entwicklungsfreundliche Blick” (Beltz Verlag)
- Ulrike Luxen und Barbara Senckel: Diverse Artikel in Fachzeitschriften zu unterschiedlichen Themen