Im Juli 2021 ist das Buch von Astrid Boll und Regina Remsperger-Kehm zu verletzendem Verhalten in Kitas erschienen. Wir freuen uns, dass Sie sich Zeit für ein kurzes Gespräch genommen haben.

Worum geht es in dem Buch?

Als Professorinnen begleiten wir zahlreiche Studierende, die zugleich in der pädagogischen Praxis tätig sind. In Seminaren berichteten sie immer wieder, dass es im Kita-Alltag häufig nicht möglich ist, angemessen mit Kindern umzugehen. Dies beschäftigt die Fachkräfte sehr. Bei unseren Recherchen zu Forschungsarbeiten über Gewalt in pädagogischen Kontexten zeigten sich zudem deutliche Parallelen zur Dissertationsstudie über die Sensitive Responsivität pädagogischer Fachkräfte, in der bereits vor zehn Jahren verletzendes Verhalten gegenüber Kindern beobachtet wurde (Remsperger 2011). Angetrieben durch die Berichte der Fachkräfte beschlossen wir, unsere Studie durchzuführen. Dabei war es unser wichtigstes Anliegen, die Perspektiven der Fachkräfte auf das Verhalten gegenüber Kindern selbst zu hören. Daher befragten wir sie zu Formen, Umgangsweisen, Ursachen und Handlungserfordernissen hinsichtlich eines verletzenden Verhaltens in Kitas.

Welches Ziel wird mit dem Buch verfolgt?

Die zahlreichen Berichte der befragten Fachkräfte zeigen, dass Kinder in Kitas auch mit einem verletzenden Verhalten der Fachkräfte konfrontiert sind. Aufgrund der Offenheit und des Muts der Befragten haben wir erfahren, wie sich Fachkräfte verletzende Verhaltensweisen erklären, welche Gefühle sie durchleben und wie sie in Situationen handeln, die sich zuspitzen. Ziel unseres Buchs ist es, an Handlungserfordernissen anzusetzen, die die Fachkräfte selbst nannten, um Kinder zu schützen: nämlich Kinder zu stärken, Bildung für Fachkräfte zu ermöglichen, Wege der Entlastung zu schaffen und eine Kultur der gegenseitigen Rückmeldung und Unterstützung zu etablieren.

Was verstehen Sie unter verletzendem Verhalten?

Mit dem Begriff des verletzenden Verhaltens haben wir uns an einer Kategorie orientiert, die zur Erfassung pädagogischer Perspektiven auf destruktive Handlungsweisen im Kita-Alltag besonders geeignet erscheint (Prengel 2019) und die eine hohe Anschlussfähigkeit an die Nuancen Sensitiver Responsivität aufweist (Remsperger 2011). Nach unserem Verständnis umfasst verletzendes Verhaltenjede Form und Intensität der Missachtung von Kindern und ihren Rechten. Sehr eindrücklich berichteten die Fachkräfte in unserer Studie von einer großen Bandbreite verletzender Verhaltensweisen, die oftmals sehr subtil und kaum merkbar beginnen, die sich aber so weit steigern können, dass Kindern Angst gemacht und ihre Würde missachtet wird.

Insgesamt haben Sie 58 Interviews mit Fachkräften ausgewertet – was haben Sie bei der Erhebung als Herausforderung wahrgenommen?

Die größte Herausforderung bestand darin, die Fachkräfte so zu befragen, dass sie sich nicht vorgeführt fühlen und öffnen können. Im Verlauf mehrerer Seminare in kindheitspädagogischen Studiengängen haben wir offene asynchrone Expert*innen-Interviews durchgeführt. Die Studierenden, die selbst in Kitas tätig sind, konnten unsere Fragen schriftlich beantworten und uns zuschicken. Auch nach Abschluss der Seminare gingen uns noch ausführliche schriftliche Berichte zu, die uns sehr betroffen machten. Auch das war herausfordernd.

Welche weiteren Forschungslücken sehen Sie in Bezug auf den Themenbereich?

Der Leitung wurde von den Befragten eine Schlüsselfunktion im Umgang mit verletzendem Verhalten  zugeschrieben. Die Perspektiven von Leitungen auf verletzendes Verhalten und mögliche Wege der Prävention sollten daher unbedingt analysiert werden. Darüber hinaus müsste vor allem auch die Opferseite noch stärker in den Blick genommen werden. Davon ausgehend, dass Kindern durch ein verletzendes Verhalten ein erheblicher Schaden zugefügt wird (Prengel 2019), müsste danach gefragt werden, wie Kinder sich zuspitzende Situationen erleben und was das verletzende Verhalten bei ihnen auslöst.

An welchen Orten haben Sie das Buch geschrieben?

Das Buch haben wir meist gemeinsam an unseren Rechnern geschrieben. Bei aller Distanz während der Corona-Pandemie konnten wir die Möglichkeit nutzen, unsere Dokumente am Bildschirm zu teilen und zusammen an der Analyse der Daten zu arbeiten. In Küche und Garten haben wir aber auch Luft holen und unsere Gedanken schweifen lassen können.

Was hat Sie am meisten beschäftigt in Bezug auf das Thema?

Aktuell bestätigt eine bundesweite Befragung von Kita-Leitungskräften, in die wir im Auftrag der Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder e.V. eingebunden waren, die Resultate unserer qualitativen Studie. Rund ein Fünftel der 1.099 befragten Leitungskräfte gibt an, verletzendes Verhalten häufig zu beobachten. Dies beschäftigt uns sehr. Die Ergebnisse unserer Explorationsstudie zeigen, dass Fachkräfte bei verletzendem Verhalten von Teamkolleginnen Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Angst und Scham empfinden. Häufig sind sie hin- und hergerissen, ob sie handeln oder schweigen. Die benannten Ursachen für verletzendes Verhalten reichen von persönlichen und berufsbiografischen Hintergründen bis hin zu prekären Rahmenbedingungen in den Kitas. Obwohl diese Resultate erschüttern, spüren wir das große Bedürfnis in der Praxis, über verletzendes Verhalten in Kitas zu sprechen. Diese Chance sollten wir nutzen und Konsequenzen auf fachpolitischer Ebene diskutieren.

Zu den Autorinnen:

Astrid Boll: Bevor ich an der HS Koblenz studiert und an der TU Dresden zum Thema „Elementardidaktik“ promoviert habe, arbeitete ich 15 Jahre als Erzieherin in Kindertageseinrichtungen. Aktuell bin ich Professorin für „Kindheitspädagogik“ an der Europäischen Fachhochschule (EUFH).

Regina Remsperger-Kehm: Nach meinem Studium an der FH Wiesbaden habe an der Goethe Universität in Frankfurt/Main zum Thema „Sensitive Responsivität in der ErzieherInnen-Kind-Interaktion“ promoviert. Nach zahlreichen Projekten im Feld der frühen Bildung und meinen Lehrtätigkeiten in Erfurt, Ludwigshafen und Koblenz bin ich nun Professorin für „Frühkindliche Bildung“ an der Hochschule Fulda.