Institutionenethik- die Reckahner Reflexionen als Beitrag zu einer Ethik des pädagogischen Handelns

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(von Ursula Wollasch, Januar 2025)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

Warum ein Ethik-Kodex?

Ein Ethik-Kodex für Fachkräfte in der Kita? Als ich im Sommer 2017 von Annedore Prengel am Rande des Forums für Inklusion in Tübingen auf die Reckahner Reflexionen angesprochen wurde, war ich neugierig, aber zugleich auch etwas skeptisch. Warum sollten sich Fachkräfte ausgerechnet für einen Katalog mit Verhaltensrichtlinien begeistern? Macht er ihnen die Arbeit im Alltag einfacher? Wird die pädagogische Praxis durch einen Kodex besser – ethischer?
Als Sozialethikerin habe ich einige Zeit an einem Forschungsprojekt zu Unternehmensleitbildern gearbeitet. In der Wirtschaft sind sie bis heute weit verbreitet. Sie werden häufig als reine Werbemaßnahmen, unverbindliche „Sonntagsreden“ oder aber als „Wertedrill“ der Mitarbeitenden kritisiert. Ich habe mich seinerzeit immer gefragt, wie man Menschen dazu bringen kann, bestimmten Werten und Normen nicht nur äußerlich zustimmen, sondern sie auch innerlich zu akzeptieren. Die Tatsache, dass es in einer Organisation ein Leitbild oder auch einen Kodex gibt, sagt nicht unbedingt etwas die individuelle Haltung der Fach- und Führungskräfte aus. Der Träger verpflichtet sich mit seinem Leitbild auf ein verantwortliches, moralisches Handeln. Aber gilt das – quasi automatisch – für alle Mitarbeitenden?

Was denken Sie, was passiert?

In einer Fortbildung habe ich Fachberaterinnen und Fachberater in Kindertageseinrichtungen die Reckahner Reflexionen vorgestellt und sie dann eingeladen, sich zunächst in die Rolle von Trägerverantwortlichen und dann in die der Mitarbeitenden einer Einrichtung zu versetzen. Ich habe sie gefragt, auf welcher Seite sie die größere Begeisterung für die Reckahner Reflexionen erwarten. Mich interessierte auch, ob die Fachberaterinnen und Fachberater mit Funkstille oder erkennbarem Widerstand rechnen. Das Ergebnis unserer Überlegungen haben wir auf einem Flipchart festgehalten.
Die Gruppe erwartete bei den Trägern große Zustimmung und kaum Widerstand. Auch bei den Leitenden und den Fachkräften vermutete man ein hohes Maß an Akzeptanz, aber auch eine deutliche Zurückhaltung bis hin zu echtem Widerstand.

Wenn man bedenkt, dass es für den Träger in der Regel ausreicht, die Umsetzung der Reckahner Reflexionen anzuordnen, dass aber ihre konkrete Umsetzung im Alltag der Einrichtung aber die Aufgaben der Leitung und der Erziehenden ist, dann ist dieser Befund nicht besonders überraschend. Er sensibilisiert aber dafür, die Situation der pädagogischen Fachkräfte und ihrer Teams sehr sorgfältig wahrzunehmen und angemessen einzuschätzen. Was ist aus ihrer Perspektive notwendig, wünschenswert und machbar? Welche Gründe sprechen aus Sicht einer pädagogischen Fachkraft dafür, sich auf die Einhaltung eines Verhaltenskodex wie die Reckahner Reflexionen zu verpflichten? Wie kann man sie von der ethischen Qualität der Leitsätze überzeugen? Wie kann man sie für die Umsetzung gewinnen? Ich habe mich auf die Suche nach möglichen Gründen gemacht, die für eine solche „Überzeugungsarbeit“ nützlich sein könnten.

Die Reckahner Reflexionen sind Leitsätze aus der Praxis und für die Praxis

Die zehn Leitsätze beschreiben Verhaltensweisen, die im Alltag der Kita zu beobachten sind. Sie formulieren keine abstrakten Werte und Prinzipien, die sich mehr oder weniger ähnlich auch in anderen sozialen Berufen finden, sondern gehen unmittelbar auf die pädagogische Beziehung ein und geben damit eine ganz konkrete Handlungsorientierung. Dieses hohe Maß an Praxisorientierung verdanken die Reckahner Reflexionen einem Diskussionsprozess, der sich über mehrere Jahre erstreckt hat. Den Ausgangspunkt bildeten wissenschaftliche Analysen auf empirischer Basis, die aus der Sicht der Kinderrechte ethisch reflektiert und dann handlungsbezogen ausgewertet wurden. Mit dieser Geschichte ihrer Entstehung bieten die Reckahner Reflexionen Trägerverantwortlichen und pädagogischen Fachkräften eine Methode an, die man auch in ihrer Einrichtung anwenden kann und die vielen sogar schon bekannt sein dürfte. Wichtig ist, dass man die Fachkräfte nicht mit dem Kodex allein lässt, sondern ihn zum Anlass nimmt, die Situation im Team zu analysieren, sie im Licht der Kinderrechte selbstkritisch zu bewerten und sich gemeinsam auf Punkte zu verständigen, die man in Zukunft ändern will.

Die Reckahner Reflexionen stehen mit ihrem Bild vom Kind auf dem Boden der Kinderrechte

Mit der Unterscheidung zwischen dem, was ethisch begründet und dem was unzulässig ist, erscheinen die Reckahner Reflexionen auf den ersten Blick wie ein Katalog mit moralischen Geboten und Verboten. Es wäre jedoch ein großes Missverständnis, wollte man sie allein darauf reduzieren. Die Unterscheidung entspricht vielmehr der Kinderrechtskonvention und ihrer Unterscheidung von Schutz- und Förderrechte. Auch die Reckahner Reflexionen zielen auf die körperliche und seelische Unversehrtheit der Kinder und ihre ungehinderte Entfaltung. Der 5. Leitsatz bringt diese Intention präzise auf den Punkt: „Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte achten auf Interessen, Freuden, Bedürfnisse, Nöte, Schmerzen und Kummer von Kindern und Jugendlichen. Sie berücksichtigen ihre Belange und den subjektiven Sinn ihres Verhaltens.“
Im Sinne des Kinderschutzes sind Interaktionen, die demütigen, entwerten und verletzen zu unterlassen. Gleichzeitig ist alles das ethisch geboten, was das Kind in seiner Entwicklung bestätigt und stärkt. Man kann die Reckahner Reflexionen daher wie eine „Kleine Kinderrechtekonvention“ lesen, zumal sie mit der Partizipation auch die dritte Gruppe der Kinderrechte ausdrücklich mitberücksichtigen. Dafür genügt ein einziger kurzer Satz: „Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte hören Kindern und Jugendlichen zu.“ (Leitsatz 2)
Im Kita-Alltag gibt es unzählige Möglichkeiten, Kinder zum Schweigen zu bringen, sie zu überhören oder eben ihnen zuzuhören und auf ihre Ideen, Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Partizipation, ganz gleich ob informell gelebt oder strukturell in bestimmten Strukturen verankert, macht für Kinder die Kinderrechte praktisch erfahrbar. Sie lernen, dass sie selber Rechte haben (siehe auch Reckahner Regelbüchlein für kleine und große Kinder) und dass für alle Kinder in der Kita gilt. Pädagogische Beziehungen, die Halt geben und zugleich Entfaltung ermöglichen, dienen einer guten Entwicklung auch im Hinblick auf das soziale und moralische Handeln des Kindes. Kinder lernen Anerkennung der anderen und Verantwortung füreinander.

Die Reckahner Reflexionen eröffnen Lernprozesse für professionelles Handeln

Die Reckahner Reflexionen sind ein Appell an das pädagogische Ethos der Fachkräfte. Sie können einen Reflexionsprozess eröffnen im Hinblick auf eigene biographische Erfahrungen der Kränkung und Verletzung, aber ebenso im Hinblick auf persönliche berufliche Ideale, Ziele und Werte. Im Hinblick auf den Kinderschutz werden zwar bestimmte Verhaltensweisen als immer und unter allen Umständen unzulässig ausgeschlossen, zugleich werden jedoch auch positive Verhaltensweisen benannt. Sie können die Selbstwahrnehmung schärfen, um individuell und im Team eigene „blinde Flecken“ wahrzunehmen. Die Reckahner Reflexionen sind nicht perfektionistisch, sondern setzen realistischerweise bei einem Verhalten an, das bereits „genügend gut“ (Donald W. Winnicott zit in Prengel 2019, S. 11) ist. Sie setzen Fachkräfte voraus, die bereit sind, sich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln und für die das Wohl der ihnen anvertrauen Kinder die höchste Priorität hat.

Haltung braucht Halt!

Aus ethischer Sicht ist die pädagogische Fachkraft als „moralisches Subjekt“ anzusprechen, das in Freiheit und Verantwortung Beziehungen gestaltet und zwar nicht nur zum Kind, sondern auch gegenüber den Eltern und im Team. Die Reckahner Reflexionen sind darauf angewiesen, dass sie im Sinne einer Selbst-Verpflichtung von der Fachkraft angenommen, umgesetzt und dauerhaft gelebt werden. Der Träger kann dazu Vorschriften machen, aber diese können die Akzeptanz der Beteiligten nicht ersetzen. Von daher kommt es viel mehr darauf an, dass Leitungsverantwortliche „geschützte Räume“ der Reflexion und des Erfahrungsaustauschs anbieten, beispielsweise Supervision, Coaching oder auch Fortbildungen.
An diesen Orten kann man über seelische Gewalt, die in verbalen Übergriffen zum Ausdruck kommt, offen sprechen, nach möglichen Ursachen fragen und Maßnahmen der Gewaltvermeidung und -prävention vereinbaren. Kritische pädagogische Grundhaltungen wie beispielsweise Adultismus können pädagogischem Fehlverhalten ebenso Vorschub leisten wie stresserzeugende Rahmenbedingungen. Schuldzuweisungen helfen an dieser Stelle nicht weiter, sondern führen eher zu Widerstand und Blockaden. Die Reckahner Reflexionen betreffen nicht nur die Kommunikation mit dem Kind, sondern die Kommunikation in der Einrichtungen ganz generell. Sie können dafür sensibilisieren, wie man in einem Team miteinander umgeht, wie die Leitung und Fachkräfte miteinander sprechen und wie der Dialog mit den Eltern aussieht.
Unter dieser Voraussetzung können Teamsupervision oder Inhouse-Seminare Möglichkeiten der selbstkritischen Auseinandersetzung bieten und der einzelnen Personen, aber auch der ganzen Einrichtung neue Perspektiven eröffnen. Solche Maßnahmen sollten allerdings nicht nur punktuell, sondern dauerhaft in den vorhandenen Organisationstrukturen verankert sein. Damit kann der Träger ein Zeichen der Verbindlichkeit und Verlässlichkeit setzen und deutlich machen, dass er die Verantwortung für die Reckahner Reflexionen gemeinsam mit der Leitung und dem Team gemeinsam übernehmen will.

Ethik pädagogischer Beziehungen – ein Thema für die ganze Gesellschaft

Aus ethischer Sicht ist interessant, wie sich in solchen Prozessen Individualethik und Institutionenethik verschränken. Die Institution braucht selbstbestimmte, mündige Subjekte, aber das Individuum braucht auch für seine moralische Entwicklung den verlässlichen Rahmen der Institution. Daher gilt: Haltung braucht Halt – und umgekehrt!
Der Arbeitskreis Menschenrechtsbildung um Annedore Prengel hat diesen institutionellen Rahmen von Anfang an mitgedacht. Damit sind die Reckahner Reflexionen mehr als nur ein berufsethischer Kodex unter vielen anderen. Fachkräfte, Leitung und Trägerschaft brauchen ihrerseits die Unterstützung der Verbände, der Wissenschaften und der Politik. Ethische Pädagogik ist nicht nur ein Thema für pädagogische Fachkräfte, sie betrifft die ganze Gesellschaft.
Es geht letztlich um nichts weniger als die humanen Grundlagen des Zusammenlebens in einem demokratischen Gemeinwesen, die von Anfang an gelebt und gelernt werden müssen. Mit der Formel Diversity, Equality, Inclusion und Belonging (DEIB) lässt dieses Grundanliegen kurz zusammenfassen. In einer Zeit, in der Rechtspopulismus und -extremismus weltweit wieder neu um sich greifen, ist dieses Programm wichtiger denn je.

Zur Autorin

Dr. Ursula Wollasch war von 2009 bis 2020 als Geschäftsführerin des Landesverbandes Katholischer Kindertagesstätten in der Diözese Rottenburg-Stuttgart tätig. Sie arbeitet heute freiberuflich als Autorin und Publizistin. Die katholische Theologin und Sozialethikerin begleitete zahlreiche Projekte zur Organisationsentwicklung und zur fachlichen Profilbildung von Kindertageseinrichtungen. Sie arbeitet aktuell in den Bereichen Kinderrechte, Gewaltprävention, Partizipation, Inklusion und interreligiösen Bildung.

Literatur

Prengel, A.; Heinzel, F.; Reitz, S. & Winklhofer, U. in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Menschenrechtsbildung an der Rochow-Akademie (2017): Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen. hg. von Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin; Deutsches Jugendinstitut e.V., München; MenschenRechtsZentrum an der Universität Potsdam; Rochow- Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische Forschung e.V. an der Universität Potsdam
https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2020/02/bf_Brosch%C3%BCre-ReckahnerReflektionen.pdf

Prengel, A. (2019). Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Barbara Budrich.

Prengel, Annedore (2020): Handreichung für Teams zur pädagogischen Arbeit mit dem „Reckahner Regelbüchlein für große und kleine Kinder“
https://paedagogische-beziehungen.eu/wp-content/uploads/2020/10/ReReKids-Erwachsenen-Leitfaden-14.pdf