Dezember 2021 / Jörg Maywald

Fehlverhalten und Gewalt durch pädagogische Fachkräfte kommen in jeder Kindertageseinrichtung vor. Sie dürfen aber nicht hingenommen oder gar begünstigt werden. Auch Wegsehen, Verschweigen oder Banalisieren helfen nicht weiter. Professionell tätig zu sein bedeutet, das eigene Handeln immer wieder neu zu reflektieren, Schwachstellen zu identifizieren, Fehler zu korrigieren und daraus zu lernen. Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, bei dessen Verwirklichung Kindertageseinrichtungen und insbesondere der Leitung eine hohe Verantwortung zukommt.

Ein Beispiel: Nötigung zum Toilettengang

Martina, eine pädagogische Fachkraft mit fast 30 Jahren Berufserfahrung, bezeichnet sich selbst als „ausgebrannt“. Sie klagt regelmäßig über Rückenschmerzen und ist häufig krank. Im Gruppenalltag legt sie großen Wert auf Sauberkeit und geordnete Abläufe. Mit Kindern, die ihren Ordnungsvorstellungen nicht entsprechen, verwickelt sie sich schnell in Konflikte. Besonders angespannt ist ihr Verhältnis zu dem knapp dreijährigen Leon. In ihrem Beisein gestaltet sich der Toilettengang des Jungen als regelrechter Kampf. Martina möchte, dass er vor dem Mittagsschlaf Blase und Darm entleert, und kontrolliert dies auch: „Du bleibst hier sitzen, bis was kommt.“ Leon verweigert sich und macht deutlich, dass er Martina in dieser Situation nicht in seiner Nähe haben möchte, was die Erzieherin aber ignoriert. Manchmal sitzt er bis zu einer halben Stunde auf dem Töpfchen, ohne dass etwas passiert. Kürzlich war er so erschöpft, dass er dabei fast eingeschlafen wäre. Der zweiten Fachkraft im Krippenbereich gefällt das Verhalten ihrer Kollegin überhaupt nicht. Wenn sie den Machtkampf nicht mehr mitansehen kann, geht sie einfach aus dem Raum. Sie traut sich aber nicht, die Leiterin anzusprechen, weil sie ihre gesundheitlich angeschlagene Kollegin nicht anschwärzen möchte.

In dem beschriebenen Fall missachtet die pädagogische Fachkraft den Willen eines knapp dreijährigen Jungen, sie beim Toilettengang nicht bei sich haben zu wollen. Er darf außerdem nicht selbst entscheiden, ob und wie lange er das Töpfchen nutzt. Ihre Bemerkung „Du bleibst hier sitzen, bis was kommt“, ist eine unzulässige Nötigung des Kindes, die nicht akzeptiert werden darf. Die Vermutung liegt nahe, dass die Fachkraft ihr eigenes gesundheitliches Leiden auf dem Rücken des Jungen austrägt. Selbst wenig Kontrolle über die Gesundheit des eigenen Körpers zu haben und sich als „ausgebrannt“ zu empfinden, kann (unbewusst) dazu führen, andere auf unzulässige Weise zu kontrollieren.

Auch das Verhalten der Kollegin, die Augen vor dem Geschehen zu verschließen und sich zurückzuziehen, ist nicht akzeptabel. Ihre Verantwortung bezieht sich vorrangig auf die Kinder und deren Wohl. Sobald – wie im geschilderten Fall – das Wohl eines Kindes aufgrund unprofessionellen Fehlverhaltens beeinträchtigt wird, darf es keine falsch verstandene kollegiale Solidarität geben. Gerade wenn sie sich scheut, ihre Kollegin offen auf ihr Fehlverhalten anzusprechen, sollte sie die Leitung informieren und deren Unterstützung in Anspruch nehmen.

Der Leitung kommt in solchen Fällen die Aufgabe zu, mit der Fachkraft ein konfrontierendes Gespräch zu führen und auf einer sofortigen Änderung des Verhaltens zu bestehen. Weitere Maßnahmen können von der Vermittlung einer Fortbildung und anderer Unterstützung bis hin zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen (z. B. Dienstanweisung) reichen. Außerdem sollten in dem Gespräch Fragen der Mitarbeiterfürsorge wie zum Beispiel die Inanspruchnahme gesundheitsfördernder Angebote thematisiert werden.

Mit Fehlverhalten und Gewalt professionell umgehen

Damit sich Fehlverhalten nicht wiederholt oder sogar verfestigt, sollte jedes unprofessionelle Verhalten Konsequenzen haben. Nur wenn Übergriffe und Gewalt gegen Kinder in der Kita nicht folgenlos bleiben, können die Beteiligten aus Fehlern zu lernen, Verhaltensweisen und Regeln ändern und Unterstützung anbieten. Welche Konsequenzen notwendig sind, hängt von der Art und Intensität des Fehlverhaltens ab. Auch spielt eine Rolle, ob es sich um ein einmaliges oder um wiederholtes unprofessionelles Verhalten handelt, welcher Grad der Einsichtsfähigkeit bei einer Fachkraft erreicht werden kann und ob sie bereit und in der Lage ist, ihr Verhalten zu ändern.

Die Reaktionen können je nach Lage des Falls von einem kollegialen Gespräch über die Beratung im Team, Gespräche mit der Leitung und den Eltern bis hin zur Inanspruchnahme externer Unterstützung reichen. In schweren Fällen können die Information des Trägers, eine Meldung an das Landesjugendamt gemäß § 47 SGB VIII und/oder arbeits- und strafrechtliche Konsequenzen unabdingbar sein.

Gewalt durch Fachkräfte präventiv verhindern

Um sich dem Ziel, ein sicherer Ort für Kinder zu sein, immer weiter anzunähern, sollte jede Einrichtung über ein institutionelles Gewaltschutzkonzept verfügen, das sowohl Maßnahmen der Prävention als auch der Intervention verbindlich festlegt. Darüber hinaus ist es sinnvoll, dass sich die Kita einer Ethik pädagogischer Beziehungen verpflichtet, die dem Handeln und Unterlassen im Alltag eine ethische Fundierung gibt. Schließlich empfiehlt es sich, das Leitbild des Trägers und das Konzept der Einrichtung an den in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Rechten der Kinder zu orientieren.

Link zur Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis

Literatur

Maywald, Jörg (2019): Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg: Herder Verlag.

Prof. Dr. Jörg Maywald, langjähriger Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind, ist Honorarprofessor an der Fachhochschule Potsdam und Sprecher der National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention.

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