Im April 2021 ist das Buch “Wege aus Verhaltensfallen – Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen” von Martina Hehn-Oldiges beim Beltz-Verlag erschienen. Wir freuen uns sehr, dass wir die Autorin zu diesem Anlass für ein kurzes Interview gewinnen konnten!
Was hat dich dazu motiviert, dieses Buch zu schreiben?
In meiner langjährigen pädagogischen Praxis in Schule und außerschulischen Einrichtungen bin ich selbst immer wieder in schwierige Situationen geraten. So fühlte ich mich durch manche Verhaltensweisen von Kindern oder Jugendlichen stark herausgefordert und ratlos, wenn pädagogische Maßnahmen nicht zum Erfolg führten. Besonders belastend empfand ich aber auch die Selbstverständlichkeit, mit der Beschämungen, Schimpfen, Strafen und Ausgrenzungen als „erzieherische Maßnahmen“ angewendet wurden. Für mich war wichtig, mein Gegenüber mit seinem Verhalten verstehen zu lernen. Dabei erwies sich als wirksam, schwierige Situationen zu analysieren und pädagogische Konzepte zu erproben, die auf Ermutigung und Wertschätzung basieren. Diese Erfahrungen konnte ich in Aus- und Fortbildungsveranstaltungen sowie in Beratungen an Lehr- und pädagogische Fachkräfte weitergeben. Es entstand eine Fülle an Materialien, die dazu genutzt werden können, herausforderndes Verhalten in seiner Komplexität zu verstehen, persönliche Anteile zu berücksichtigen und pädagogisches Handeln anzupassen. Positive Rückmeldungen sowie die Nachfrage nach diesen Materialien zur Weitergabe in Kollegien oder Teams veranlassten mich dazu, diese in Form einer Handreichung zu veröffentlichen.
In vielen Ratgebern für pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte wird häufiger von schwierigen Kindern oder Kindern mit Verhaltensstörungen gesprochen – wie geht es dir mit diesen Bezeichnungen und wieso schreibst du von herausforderndem Verhalten?
Der Begriff „herausforderndes Verhalten“ eignet sich für mich, da er zum einen die Sicht der pädagogischen Fachkraft berücksichtigt: Was genau stört mich und fordert mich heraus? Zum anderen kann die Perspektive desjenigen eingenommen werden, der durch sein Verhalten auf sich aufmerksam macht und uns zum Nachdenken herausfordert: Ist die Situation möglicherweise für das Kind belastend? Was ging dem Verhalten in der Gruppe voraus? Fragen wie diese führen zu Lösungen. Sprechen wir aber von „schwierigen Kindern“ oder „Verhaltensstörungen“, können komplexe Wirkungszusammenhänge aus dem Blick geraten. Die Verantwortung für gelingendes soziales Miteinander wird dann allein den Kindern oder Jugendlichen zugeschoben. Zudem kann es dazu führen, dass die so bezeichneten Kinder und Jugendlichen auf ihr „störendes“ Verhalten reduziert und abgestempelt werden. Daher spreche ich lieber von „schwierigen Situationen“, in denen das jeweilige als herausfordernd eingeschätzte Verhalten in seiner Bedeutung erfasst und unser pädagogisches Handeln daran angepasst werden kann.
Was ist unter Verhaltensfallen zu verstehen?
In konflikthaften Situationen sind wir häufig emotional belastet. Es kann sein, dass wir mit unseren Maßnahmen scheitern, uns zunehmend ratlos fühlen und beginnen zu resignieren. Unser professionelles Handeln kann durch Gefühle wie Angst, Wut, Selbstzweifel und Hilflosigkeit überlagert werden. Wenn wir die Ursachen für das Verhalten unseres Gegenübers fehldeuten, wirken die von uns ergriffenen Maßnahmen nicht. Es kann zu Eskalationen kommen und wir geraten in Verhaltensfallen. Äußerungen wie: „Es gibt gar keinen Grund, sich so zu verhalten! Sie macht das extra! Selbst schuld, wenn sie sich nicht an die Regeln hält!“ können ein Hinweis darauf sein. Wertschätzendes und anerkennendes Handeln ist dann oft erschwert. In diesem Buch werden vielfältige mögliche Verhaltensfallen dargestellt, in die ich selbst oder andere Lehr- oder pädagogische Fachkräfte geraten sind. Alternative Wege, die zur Vermeidung oder Überwindung der Verhaltensfallen beitragen können, werden jeweils ausgeführt.
Wie würdest du das Machtverhältnis zwischen Lehrkräften und Lernenden oder zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern beschreiben?
Lehr- und pädagogische Fachkräfte in Kita und Schule haben einen pädagogischen Auftrag zu erfüllen und sorgen für dessen Umsetzung. Sie können aufgrund ihrer Rolle darüber entscheiden, wie mit Kindern und Jugendlichen umgegangen wird und sind als Vorbilder für soziales Miteinander wirksam. Es besteht eine formale, aber auch emotionale Abhängigkeit. Erfüllen Kinder und Jugendliche die an sie gestellten Erwartungen im Hinblick auf Sozialverhalten oder Leistung nicht, wird die Macht spürbar: z. B. durch die Art der Rückmeldungen oder verbale Bewertungen, die ermutigend oder beschämend wirken können, durch die formalen Kriterien der Notengebung oder durch den Einsatz von Sanktionen.
Besonders im schulischen Bereich wird von Lehrkräften erwartet, dass sie die Lernenden „im Griff“ haben und sich „gegen sie“ durchsetzen. So raten erfahrene Lehrkräfte Neulingen nicht selten dazu, die Kinder und Jugendlichen vorsorglich einzuschüchtern, um sich zukünftig vor der Klasse behaupten zu können. Um dem etwas entgegenzusetzen, möchte ich durch das Buch Anregungen dazu geben, wie das Machtverhältnis im Sinne eines positiven Vorbilds genutzt werden kann. Indem ich für ein wertschätzendes und ermutigendes Klima in der Lerngruppe sorge und vorbildhaft handele, können Drohgebärden überflüssig werden. Auf Annahme und Anerkennung basierende pädagogische Maßnahmen, die in der Praxis erprobt wurden und nachhaltig wirksam sind, werden im Buch vorgestellt.
An wen richtet sich dieses Buch?
Das als Handreichung gedachte Buch richtet sich an pädagogische Fachkräfte in außerschulischen (frühpädagogischen, sonderpädagogischen, sozialpädagogischen) Einrichtungen sowie an Lehrkräfte, die in unterschiedlichen Schulstufen und Schulformen unterrichten. Es eignet sich zur individuellen Lektüre. Die Materialien sind aber auch als Grundlage für Fachgespräche zur Sozio-Emotionalität in Teams oder Kollegien entwickelt und erprobt worden. Ein Leitfaden zur Analyse der Sozio-Emotionalität (s. Anhänge aus dem Buch) bietet dazu eine Strukturierungshilfe, um der Komplexität des Themas zu begegnen.
An welchen Orten hast du an dem Buch geschrieben?
Überwiegend zuhause an meinem Schreibtisch und an warmen und sonnigen Tagen immer auf der Terrasse. Für die Literatursichtung habe ich zudem gern die neue Unibibliothek in Marburg mit ihren ansprechend gestalteten Arbeitsplätzen genutzt.
Eine Leseprobe, das Inhaltsverzeichnis sowie alle Online-Materialien finden Sie unter diesem Link.
Weitere Beiträge zur Umsetzung der Reckahner Reflexionen von Martina Hehn-Oldiges:
- Hehn-Oldiges (2018): Vorbildhafte Strategien pädagogischer Fachkräfte im Dialog
- Hehn-Oldiges/Ostermann (2020): Ampeln und andere Ermahnungssysteme – problematische Strategien zur Erziehung
Martina Hehn-Oldiges war an der Entwicklung der „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ beteiligt. Sie arbeitet aktiv im interdisziplinären Arbeitskreis „Menschenrechtsbildung“ im Rochow-Museum und Akademie für bildungsgeschichtliche und zeitdiagnostische Forschung an der Universität Potsdam mit.