(von Ulrike Becker) Die „Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ haben zum Ziel zur Verbesserung pädagogischer Beziehungen und damit zum Wohlbefinden aller und zum Erfolg beim Lernen in Schulen und anderen Einrichtungen beizutragen. Zwei der zehn ethischen Leitlinien, die in den Reckahner Reflexionen formuliert werden, beziehen sich auf Probleme im Bereich Verhalten:
- Die Leitlinie Nr. 4 lautet:
„Bei Rückmeldungen zum Verhalten werden bereits gelingende Verhaltensweisen benannt. Schritte zur guten Weiterentwicklung werden vereinbart. Die dauerhafte Zugehörigkeit aller zur Gemeinschaft wird gestärkt.“ - Die Leitlinie Nr. 9 lautet:
„Es ist nicht zulässig, dass Lehrpersonen und pädagogische Fachkräfte auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen herabsetzend, überwältigend oder ausgrenzend reagieren.“
Diese Leitlinien betreffen konflikthafte Situationen, die für Lehrerinnen und Lehrer oft schwierig sind, so dass ein negativer Kreislauf in Gang kommt. Wenn Schülerinnen und Schülern in Schulen einen Schaden anrichten, der andere Menschen oder Sachen betrifft, werden meist Strafen verhängt. Solche Strafen sind oft mit Ausgrenzungen und Stigmatisierungen verbunden, die den Konflikt noch verschärfen. Dann verschlimmert sich die Situation für alle Beteiligten weiter.
Im Gegensatz dazu ist es möglich bei Fehlverhalten andere pädagogische Strategien anzuwenden, die helfen problematisches Handeln abzubauen und integrativ wirken. Ulrike Becker, Berliner Schulleiterin und Professorin an der Universität Potsdam, hat eine erfolgreiche pädagogische Strategie an ihrer Schule entwickelt, die dazu beiträgt, dass Schüler ein Fehlverhalten wieder gut machen können und dass ihre Zugehörigkeit zur Gemeinschaft gefestigt wird.
Der folgende Auszug aus einem Artikel von Ulrike Becker gibt Einblick in eine hochproblematische Situation, die durch Wiedergutmachung konstruktiv und integrierend gelöst wurde.
„Herr Schneider, erfahrener Französisch- und Sportlehrer führt seine Pausenaufsicht durch. Ali, ein fünfzehnjähriger Schüler rast auf ihn zu, bremst vor dem Lehrer ab und kommt fast zum Stehen bevor er langsam am Lehrer vorbei durch das Hoftor schlendert. Dabei rempelt er den Lehrer leicht an und entschuldigt sich sofort im Vorbeigehen: „Entschuldigen Sie bitte. Es tut mir leid!“ Dabei verlässt er unerlaubt das Schulgelände, um sich an der nahegelegenen Tankstelle ein Sandwich zu kaufen. Ali ist 1,90m groß, sportlich und durchtrainiert, kurzum eine beeindruckende Erscheinung. Herr Schneider beschwert sich bei seinem Schulleiter, Herrn Müller: „Das hat er mit Absicht gemacht. Er wollte, dass ich zur Seite springe und er durchgehen kann. Als ich stehenblieb, hat er mich angerempelt.“
Der Lehrer will den Schüler nicht mehr unterrichten und fordert in seiner Erregung sogar, Ali müsse die Schule verlassen. Herr Müller äußert sein Verständnis gegenüber Herrn Schneider: „Ich verstehe, dass Sie wütend sind!“ Anschließend spricht der Schulleiter mit dem Schüler. Ali leugnet Herrn Schneider absichtlich angerempelt zu haben. Der Schulleiter fragt ihn: „Der Lehrer will Dich nicht mehr unterrichten. Du bist für deine Wirkung auf Lehrkräfte verantwortlich. Wie kannst Du erreichen, dass er Dich wieder unterrichten möchte?“ „Ich muss es wiedergutmachen“ „Wie kann das gehen?“ „Für Herrn Schneider die Pausenaufsicht am Tor machen.“ In der sich anschließenden Klassenkonferenz verständigen sich alle darauf, dass Ali Herrn Schneiders Pausenaufsicht vier Wochen lang übernimmt und Herr Schneider Ali dabei unterstützt. Dazu wird ein Vertrag zwischen Schulleitung, Eltern, Lehrkräften, dem Schüler und seinen Eltern erstellt und unterschrieben. Der Vertrag enthält einen Termin für ein Auswertungsgespräch.
Im Konflikt zwischen Herrn Schneider und Ali kann nicht bewiesen werden, dass er Herrn Schneider mit Absicht angerempelt hat. Deshalb wäre es sinnlos, mit ihm darüber zu streiten. Besser sind Ausführungen wie „Es ist der Eindruck entstanden, dass Du ihn absichtlich angerempelt hast.“ Oder: „Auch wenn Du es nicht absichtlich getan haben solltest, bleibt der Fakt bestehen, dass du ihn berührt hast. Wie kannst du das wiedergutmachen?“
Kinder und Jugendliche müssen die Möglichkeit erhalten, Wiedergutmachung zu leisten. Dadurch können sich die Schuldgefühle des Schülers und die Kränkung der Lehrkraft auflösen. Es wird ein „Reset“ zwischen dem Schüler und dem Lehrer möglich. Dadurch werden zukünftige Begegnungen im Unterricht und in Pausen von negativen Gefühlen, wie Ablehnung und Aggression, befreit. Je älter ein Schüler oder eine Schülerin ist, umso mehr muss ihnen die Möglichkeit gegeben werden, selbst eine Lösung zu finden.
Die Klassenkonferenz dient der Lösungsfindung und darf keine „Anklagebank“ sein.
Diskriminierende Äußerungen gegenüber Schülern, Eltern oder Lehrkräften müssen vermieden werden. Dies gelingt durch
- die Einhaltung von Gesprächsregeln, wie „Ich spreche nur in Ich-Form!“,
- vorausgehende Einzelgespräche mit allen Beteiligten und
- eine Sitzordnung, die Konfrontationen vermeiden hilft und die Lösungsorientierung begünstigt: Die Schulleitung sitzt neben den Eltern des Jugendlichen, die Klassenlehrer nehmen den Jugendlichen in ihre Mitte und Herr Schneider sitzt gegenüber inmitten der Fachlehrer. Auf diese Weise hat Herr Schneider eine Position, die ihm ermöglicht Lösungsvorschläge des Jugendlichen anzunehmen oder abzulehnen. Der Schüler wiederum nimmt die Nähe zwischen der Schulleitung und seinen Eltern wahr.
Nach vier Wochen findet ein Auswertungsgespräch statt, in dem Herr Schneider Ali für die zuverlässige und fast immer pünktliche Übernahme der Pausenaufsicht loben kann. Ali ist bei den jüngeren Schülern der Schule sehr angesehen und hat deshalb eine positive Wirkung auf deren Verhalten in der Hofpause entfalten können. Herr Schneider unterrichtet Ali wieder gerne.
In solchen Konfliktsituationen ist es wichtig Lehrkräfte anzuhören, sie wertzuschätzen und einen Schulterschluss mit der Lehrkraft zu bilden: „Ich verstehe gut, dass Sie sich provoziert fühlen.“
Sind Lehrkräfte aggressiv konnotierten Konflikten mit Schülern ausgesetzt, ist es ihnen nicht nur wichtig, dass die Schulleitung eine emotionale Unterstützung leistet, sondern auch umgehend handelt. Dafür sind schuleigene Strukturen zum Ablauf der Handlungsschritte bei Konflikten zwischen Schülern und Lehrern unerlässlich. Diese müssen mit dem Kollegium partizipativ erarbeitet, in Flussdiagrammen verschriftlicht und im Schulalltag umgesetzt werden.
Lösungsorientiertes Konfliktlösungsmanagement kann nur gelingen, wenn schulinterne Strukturen zur Konfliktlösung partizipativ erarbeitet und von der Schulleitung sowie dem Kollegium im Alltag umgesetzt werden.“
Auszug aus Becker, Ulrike: Konflikte zwischen Schülern und Lehrkräften – Anregungen für ein lösungsorientiertes Schulleitungshandeln. In: Schule leiten, 10/2017, S. 30-31
Weitere Publikationen von Ulrike Becker:
- Becker, Ulrike (2008): Lernzugänge. Wiesbaden.
- Becker, Ulrike (2014): Inclusive Education – Supporting Children with Behavioural Problems and Their Reference Persons in Lower Primary School. Journal of Special Education and Rehabilitation, 15, 1-2, 24-42.
- Becker, Ulrike (2016): Leben und Lernen in der Schulgemeinschaft. In: Zeitschrift Pädagogik, 11, 2016, 28-31.
- Spiewak, Martin (2014): Du störst! Was tun mit einem Neuntklässler, der um sich schlägt? Ein Gespräch mit der Sonderpädagogin Ulrike Becker über verhaltensauffällige Schüler. In: Die ZEIT, Nr. 24 vom 5.6.2014, 71.