Zahnbürsten und das Potential der Restorativen Fragen

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(von Judith Kohler, November 2024)

Schon als ich am Nachmittag die Wohnungstür öffnete, merkte ich, dass zwischen meiner Tochter und ihrem Vater dicke Luft herrschte. Dann hörte ich, wie die Tür zum Kinderzimmer zugeschlagen wurde. Kurz darauf ging ich ihr nach und fragte sie, was passiert sei. Sie erzählte und ich hörte zu. Teilweise spiegelte ich ihren Ärger und ihre Frustration. Als ihr Erzählfluss nachließ, fragte ich sie: „Und was braucht es, damit es zwischen dir und Papa wieder gut wird?“ Sie überlegte nicht lange und ich konnte beobachten, wie sich ihre Körperhaltung schlagartig veränderte. Sie richtete sich auf und plötzlich strahlte sie zu meiner Überraschung über das ganze Gesicht und sagte: „Ich brauche einen Streich!“. „Einen Streich?“, sagte ich überrascht, denn ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Und auch nicht mit der Schnelligkeit und mit der Klarheit mit der meine Tochter diesen Streit für sich abgerundet hatte.

Entwicklung der Restorativen Fragen

„Was braucht es, damit es wieder gut wird?“ ist eine der Restorativen Fragen. Sie wurden 1991 von dem australischen Polizisten Terry O’Connell als Teil seines Restorative Justice Skripts entwickelt (Wachtel 2012). Restorative Justice entstand aus dem Wunsch nach einem alternativen Umgang mit Straftaten jenseits des klassischen Justizsystems. Während sich die Strafjustiz mit der Schuldfrage auseinandersetzt und eine Strafe für den Täter festlegt, wünschten sie sich einen Raum, in dem die Person, der Schaden zugefügt wurde, im Mittelpunkt steht. Sie plädierten für ein Verfahren, in dem es nicht mehr darum geht, wer gegen welche Regeln oder Gesetze verstoßen hat und welche Strafe zu verhängen ist, sondern darum, welche Beziehungen verletzt wurden. Ein Setting, in dem Verantwortung übernommen werden kann und in dem die Beteiligten gemeinsam klären, welche Form der materiellen oder immateriellen Wiedergutmachung notwendig ist, um die verletzten Beziehungen zu heilen. Im Deutschen wird Restorative Justice daher auch als wiederherstellende oder heilende Gerechtigkeit übersetzt.

Verschiedene Versionen von Restorativen Fragen und ihre Anwendung

Neben den von Terry O’Connell entwickelten Fragen hinaus, gibt es verschiedene Sets von Restorativen Fragen (eine Übersicht wurde vom Minnesota Department of Education erstellt). Im Rahmen des Modellprojekts “Mit Restorativen Praktiken ein positives und sicheres Schulklima fördern” haben wir uns an den Fragen der britischen Expertin für Restorative Praktiken, Belinda Hopkins, orientiert, die selbst als Lehrerin gearbeitet hat (Hopkins 1991).

  1. Was ist aus deiner Sicht passiert?
  2. Was ging dir durch den Kopf?
  3. Und wie hast du dich dabei gefühlt?
  4. Wer ist betroffen und wie?
  5. Was braucht es, damit es wieder gut ist?

Die Idee ist, dass Person A Person B durch Fragen hilft, sich einer Situation und ihrer Auswirkungen bewusst zu werden. Diese Art des Dialogs gibt B Raum, gehört zu werden und fördert die Selbstreflexion, bei Bedarf auch mit Blick auf die Effekte von schädigendem Verhalten.

Die Fragen können einzeln in informellen Gesprächen verwendet werden, wie im eingangs beschriebenen Beispiel. In formellen Treffen werden sie der Reihe nach gefragt. Fester Bestandteil formeller Treffen sind individuelle Vorgespräche mit allen Beteiligten, die der Vorbereitung des Haupttreffens dienen. Auch hier werden die Fragen der Reihe nach eingesetzt.
Restorative Fragen können nicht nur verwendet werden, um anderen Raum zum Erzählen zu geben, sondern auch, um uns selbst mitzuteilen. (zu sehen z.B. im Tedx Talk von Michelle Stowe).

In allen Anwendungsvarianten haben die Fragen das Potential, uns von der Fokussierung auf Schuld und Strafe hin zu einer Fokussierung auf Beziehung und Gemeinschaft zu führen. Anstatt in der Kita zu fragen “Warum wurden alle Bücher aus dem Regal genommen?”, könnte die Frage z. B. lauten “Was ist passiert, dass alle Bücher auf dem Boden liegen?” Während eine Warum-Frage oft dazu führt, dass sich Menschen rechtfertigen, lädt die Frage nach dem, was passiert ist, eher dazu ein, zu erzählen und zu schildern, was passiert ist – vorausgesetzt, es ist spürbar, dass ich als fragende Person wirklich neugierig und offen bin, zu hören, was los war!

Ich würde mir wünschen, dass vor allem die vierte Frage „Wer ist betroffen und wie?“ in unserer Gesellschaft eine gängigere Reflexionsfrage wäre. Mit Hilfe dieser Fragen können wir uns ein Bild davon machen, welche Auswirkungen Handlungen oder Äußerungen haben und wer davon betroffen ist (bildlich gesprochen, welche Kreise sie ziehen), sowohl in Bezug auf die Handlungen anderer als auch in Bezug auf unsere eigenen Handlungen. Ich möchte ein Beispiel nennen. Wer ist betroffen, wenn eine Lehrkraft über ihre Grenzen geht, und wie wirkt sich das auf die einzelnen Personen aus? Zunächst einmal ist sie selbst betroffen und es kann zum Beispiel dazu führen, dass die Lautstärke der Kinder sie überfordert und sie diese anschreit. Das heißt, die Kinder in der Klasse sind auch betroffen. Dem einen Kind macht es vielleicht gar nichts aus, ein anderes hat vielleicht Angst bekommen und wird von nun an in ähnlichen Situationen auf der Hut sein. Das Nervensystem eines traumatisierten Kindes kann blitzschnell in den Kampfmodus schalten und als Schutzmechanismus dieden Tischnachbarin schlagen. Wahrscheinlich sind auch ihre Kolleginnen vom Zustand der Lehrkraft betroffen. Vielleicht ist sie ihnen gegenüber kürzer angebunden als sonst. Oder steht nicht für den entspannenden Austausch zur Verfügung, den sie sonst untereinander pflegen. Und wenn die Lehrkraft nach Hause kommt und bis dahin nicht die Möglichkeit hatte, wieder ins Gleichgewicht zu kommen, ist sicher auch derdie Partner*in oder die Familie davon betroffen, dass sie über ihre Grenzen gegangen ist.

Die Frage (wie alle anderen restorativen Fragen auch) ist nicht als moralische Frage zu verstehen. Es geht nicht um eine Bewertung im Sinne von richtig oder falsch. Die Intention der vierten Frage ist es, sich die Auswirkungen und auch die Zusammenhänge von Handlungen vor Augen zu führen. Mit Blick auf die Zukunft kann sie helfen, Entscheidungen zu treffen, die sowohl den Bedürfnissen des Einzelnen als auch der Gemeinschaft Rechnung tragen. Bei Konflikten hilft sie, die angemessene Form der Wiedergutmachung zu finden.

Die Haltung, mit der die Fragen gestellt werden, ist entscheidend

Wie bei vielen andere Ansätzen auch, ist die Haltung in der die Restorativen Praktiken angewendet werden essentiell. Die von Belinda Hopkins formulierten Grundüberzeugungen der Restorative Praktiken können eine Orientierung für die Anwendung der Restorativen Fragen bieten. Im Handbuch „Restorative Schule: Gemeinschaft und Verantwortung“ findet sich eine Zusammenführung der Restorativen Fragen und der entsprechenden Grundüberzeugungen (S. 65, 66). Die Grundüberzeugungen lauten:

  1. Jede*r hat eine eigene Sicht auf das was passiert ist. Deshalb ist es wichtig, die Sichtweisen aller Beteiligten zu hören.
  2. Unser Denken beeinflusst unsere Gefühle und unsere Gefühle beeinflussen unser Handeln.
  3. Unsere Handlungen haben Einfluss auf die Menschen in unserem Umfeld. Daher ist es wichtig zu reflektieren, welche dies sein mögen.
  4. Es geht darum, die Bedürfnisse aller Beteiligten herauszufinden, als Grundlage für Entscheidungen oder Lösungen.
  5. Es ist wichtig, dass die Menschen, die von einem Konflikt betroffen sind, die Lösungen selbst erarbeiten. Dies fördert Vertrauen, soziales Verhalten und stärkt die Beziehungen.

Das Potential der Fragen besteht darin, einen Raum zu eröffnen, in dem einer anderen Person (oder mehreren) in voller Präsenz und mit Wohlwollen zugehört wird (Bezug zu den Leitlinien 1, 2 und 5 der Reckahner Reflexionen). Dies kann den Erzählenden Vertrauen und, wenn nötig, Mut geben, ihre Geschichten zu erzählen. Das allein ist schon bedeutsam. Es signalisiert ‚ich bin wichtig‘ und ‚ich werde gehört und gesehen‘ und kann so dazu beitragen, dass sich Menschen zugehörig fühlen. Zugehörigkeit beeinflusst nicht nur die psychische und physische Gesundheit des Einzelnen, sondern auch das Funktionieren und die Stabilität von Gemeinschaften.
Und die erzählten Geschichten sind gleichzeitig die Grundlage dafür, dass eine Lösung gefunden werden kann, die allen Beteiligten gerecht wird und verletzte Beziehungen wieder kitten kann (Bezug zu den Leitlinien 4 und 6 der Reckahner Reflexionen).

Was mir an den Fragen gefällt, ist, dass sie sowohl zusammen als auch einzeln kraftvoll und wirkmächtig sein können. Und dass sie uns helfen, denjenigen Raum zu geben, um die es geht, anstatt unsere eigenen Geschichten oder Lösungsideen zu erzählen. Auf den eingangs erwähnten Streich als Lösungsidee meiner Tochter wäre ich z. B. selbst nie gekommen.

Der gewünschte Streich war, dass der Papa ihr Salz auf die Zahnbürste streut. Wir vereinbarten, dass ich ihren Wunsch überbringe. Mit dieser Streich-Idee hatte meine Tochter gleich doppelt für sich gesorgt. Schon mit dem Aussprechen der Idee war für sie die verletzte Beziehung zu ihrem Vater geheilt. Und als sie dann am Abend das Salz auf der Zahnbürste schmeckte, war die Freude bei beiden groß, was ihre Beziehung und Gemeinschaft stärkte.

Autorin
Judith Kohler, IRP Institut für Restorative Praktiken & freiberufliche Mediatorin auf Basis der GFK-Mediation, jkohler@irp-berlin.de

Ein Video über die Arbeit des Instituts finden Sie unter diesem Link.

Literatur
• Hopkins, B. (1999). The Restorative Classroom: Using Restorative Approaches to Foster Effective Learning
• Kohler, J., Vethacke, M, Sodji, I (2024). Handbuch Restorative Schule: Gemeinschaft und Verantwortung, https://www.irp-berlin.de/wp-content/uploads/IRP-Handbuch-Restorative-Schule.pdf
• Minnesota Department of Education. Restorative Questions: Versions, https://education.mn.gov/mdeprod/groups/educ/documents/basic/cm9k/mdgz/~edisp/prod083202.pdf
• Stowe, M (2017). TEDx Talk „Empathy: The Heart of Difficult Conversations“, https://www.ted.com/talks/michelle_stowe_empathy_the_heart_of_difficult_conversations/transcript?subtitle=en
• Wachtel, T. (2012 ) Defining Restorative, https://www.pacwrc.pitt.edu/FGDM_conference/A5/A5%20Merging%20FGDM%20Defining-Restorative.pdf