Achtsam und respektvoll sein im Umgang mit Kindern und Erwachsenen – Beispiele aus der Praxis einer Kinderkrippe

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Silvia Dietrich hat Beobachtungen aus der Praxis für uns dokumentiert.

Beispiel 1 „Das ist doch für die Mama!“

Es ist Dienstagvormittag und eine Besuchergruppe von 3 Erzieherinnen hat sich für eine Führung durch das Haus mit anschließendem Fachaustausch angemeldet. Nach einer kurzen Begrüßung starte ich  (Leitung) mit den Gästen den Rundgang in die Gruppe der ein- bis dreijährigen, in der Eva und Karin, die beiden Erzieherinnen und die Kinder schon auf uns warten. Während Eva mit den drei jüngsten in den Flur geht, um sie anzuziehen für draußen, bleiben 5 zwei- bis dreijährige im Gruppenraum. Für sie ist ein Mal Tisch vorbereitet und konzentriert hinterlassen sie ihre Spuren auf Papier.

Zwischen uns Erwachsenen entsteht ein angeregter Austausch während die Kinder noch mit Malen beschäftigt sind. Nach einigen Minuten beobachte ich, dass Paul und Jan den Tisch verlassen: ihr bemaltes Blatt nehmen sie mit und knüllen es zusammen. Sie rennen durch die Gruppe und haben sichtlich Spaß dabei, ihre Papierkugel durch den Raum zu werfen. Sie laufen zurück zum Mal Tisch und nehmen sich ein neues Blatt, um es zusammen zu drücken zu einer Kugel. „Wie das fliegt!“, „Guck mal….“ Nun werden auch die anderen aktiv und übernehmen das Spiel mit großer Begeisterung. Man sieht, es macht allen  Spaß!

Das bemerkt auch Erzieherin Karin und schaltet sich mit energischer Stimme ein: „Was macht ihr denn da!!! Die Bilder sind doch für die Mama!“ Sie nimmt den Kindern unsanft die Papierkugeln ab, streicht sie glatt und legt sie hoch in ein Regal. „Die Mama freut sich doch über das Bild“ ist ihre Erklärung. Die  Kinder schauen irritiert und fassungslos ihre Erzieherin an, Paul ist wütend und wirft sich auf den Boden: „Ich will aber weiter spielen!“ ruft er. Karin beugt sich zu ihm hinunter und macht  den Vorschlag, zum Spielen  mit ihr in den Garten zu gehen. Er schreit „Nein“ und bleibt liegen.  Sie geht mit den anderen Kindern an die Garderobe und zieht sie an. Nach einer Weile kommt Paul nach und lässt sich ebenfalls anziehen.

In einem Reflexionsgespräch mit den Kolleginnen versuchen wir gemeinsam, den Vorgang zu analysieren:

Was ist da eigentlich passiert? Haben wir die Bedürfnisse der Kinder erkannt? Geht es den Kindern um das Produkt oder das Tun im hier und jetzt? Warum ist uns das Produkt (Bild) so wichtig für die Eltern?

Unsere Erkenntnis: Die Erwachsenenlogik zurückstellen, nicht das Ergebnis ist entscheidend sondern die Erkenntnisse im Tun.

Beispiel 2: „Wir ziehen um“

Meine Kollegin Traudel wundert sich über Ben, 2 Jahre alt, der seit zwei Tagen jeden Morgen alles Spielzeug, was er findet, in die Betten räumt. Er trägt die Puzzleteile, die Bausteine, die Bilderbücher, die Stofftiere und was er sonst noch in den Regalen findet in den Schlafraum und verstaut es in den Betten.

Im Zwiespalt: Soll ich Ben gewähren lassen oder muss ich diese Handlungen verbieten, gerät Traudel mit ihrer Kollegin Ute in Konflikt. „Das geht doch nicht, dass der alles ausräumt und so ein durcheinander macht.“ Traudel beschließt, mit Bens Mutter zu sprechen, wenn sie ihn nachmittags abholt. Vielleicht hat sie eine Idee, womit Ben gerade beschäftigt ist?

„Tja, vielleicht liegt es daran, dass wir gerade umziehen und die Umzugskisten packen???“ Das ist die einzige Erklärung, die Bens Mutter hat und die wohl voll zutrifft.

Mit dieser wichtigen Erkenntnis geht Traudel ans Werk: sie besorgt Umzugskisten, Koffer, Taschen, Kisten, Körbe, Beutel, große und kleine Kartons, Wäschekörbe – alles bereit für den „Umzug“. So wird nun über viele Tage gepackt, weggetragen und ausgeräumt, wieder eingeräumt und ausgepackt. Mittlerweile sind alle Kinder im Umzugsfieber und auch die Kinder der Nachbargruppe schauen interessiert als Zaungäste zu, was da stattfindet und helfen mit.

Wie glücklich können sich Kinder schätzen, die so einer Erzieherin begegnen, die nicht pauschal Verbote ausspricht, um die Kontrolle zu behalten, sondern den Fragen der Kinder Raum gibt für Entfaltung. Dafür bin ich dankbar!

Beispiel 3 „Du gefällst mir heute gar nicht“

Anna, 3 Jahre alt, ist heute stiller und auffallend ruhiger als sonst. Eva, ihre Erzieherin schaut sie besorgt an, fühlt ihre Stirn und sagt: „Also Anna, du gefällst mir heute gar nicht!“ Anna wirkt verunsichert, schaut die Erzieherin  an und antwortet leise: „Aber ich habe dich trotzdem gern.“

Eva ist perplex und entschuldigt sich bei Anna für diesen Satz und  erklärt ihr, dass sie Anna natürlich auch gern hat und  Erwachsene damit meinen, sie machen sich Sorgen und glauben, dass man krank ist.

Wir werden nachdenklich und spüren, dass wir vieles völlig unreflektiert formulieren und Kinder uns sozusagen wörtlich nehmen.

Beispiel 4 „Beim Essen bleibst du sitzen!“

Immer wieder beschäftigt uns die Essenssituation  in den Gruppen, da die Kinder bei den Mahlzeiten unruhig werden, auf den Stühlen hin und her rutschen und zum stillsitzen angehalten werden. Besonders eine Erzieherin verhält sich rigoros, setzt sich mit ihrem Stuhl direkt hinter zwei Kinder und hält mit den Knien die Stühle der Kinder so fest, dass sie am Tisch fast eingeklemmt sind. „So, Ihr bleibt jetzt sitzen“ ist ihre Ansage.

Unser Versprechen, ich werde keine Macht ausüben, gerät in Vergessenheit und für mich als Leitung steht die Aufgabe im Raum, in eine pädagogische Auseinandersetzung zu gehen zum Thema: Wie gestalten wir die Mahlzeiten?

In einer Teamsitzung tauschen wir uns aus und bearbeiten zusammen den Artikel von Anita Dries, Die Essensituation: Der Piklersche Ansatz in einer öffentlichen Kindertagesstätte (In: Vince, Maria (Hrg.): Schritte zum selbstständigen Essen, Pikler Gesellschaft 1992).

Wir konnten uns darauf einigen, dass zwei Gruppen in das Experiment einsteigen und folgende Änderungen ausprobieren:

Es wird in zwei Tischgruppen gegessen à 5 Kinder, jedes Kind hat einen festen Sitzplatz, den es auswählt  und sein Foto auf den Tisch klebt.

  • Die Stühle werden durch Hocker ersetzt, damit findet aktives Sitzen statt, die Füße der Kinder haben Bodenkontakt und hängen nicht in der Luft.
  • Der Nachtisch ist keine Belohnung, jedes Kind entscheidet selbst, in welcher Reihenfolge es was zu sich nimmt.
  • Die Kinder werden nicht zum Essen oder Probierhappen gezwungen oder überredet.
  • Sobald ein Kind aufstehen will, fragen wir, ob es wirklich satt ist. Wenn es das bejaht und aufsteht, ist die Mahlzeit beendet und es kann im Gruppenraum ruhig spielen.
  • Wir halten ein Tablett bereit mit Waschlappen, einer Schüssel und eine Thermoskanne mit warmem Wasser. Die Kinder können sich so selbst  vor dem Spiegel reinigen und es entsteht keine Hektik, mit einzelnen Kindern in den Waschraum zu gehen.
  • Sobald ein Kind mit dem Essen spielt, fragen wir, ob es aufstehen will.

Es wurde sehr kontrovers diskutiert und einige Kolleginnen hatten die Befürchtung, dass jetzt nur noch Chaos herrscht, weil alle Kinder aufstehen wollen und sie nur noch Nachtisch essen. Zugegeben: wir in den Experimentiergruppen hatten auch Bedenken, ob das gut gehen kann….

Es dauerte 2 Wochen, bis sich die Kinder an die neuen Vereinbarungen gewöhnt hatten. Am Anfang reagierten sie misstrauisch, ob das mit dem Nachtisch wirklich so stimmt und aßen zuerst den Nachtisch und dann die Hauptmahlzeit. Nach einigen Tagen hatten sie das Interesse am Nachtisch verloren – der war jetzt sicher! Das Angebot, ich kann aufstehen und spielen, war natürlich sehr verführerisch und wurde die ersten 3 Tage voll ausgeschöpft. Nur, dass dann auch das Essen vorbei war, haben sie sehr schnell gemerkt und bei der Frage:“ Bist du wirklich satt und möchtest du aufstehen?“, haben sich einige Kinder dann doch wieder hingesetzt.

Es ist  eine erstaunliche Ruhe eingetreten, die Anspannung ist verflogen, jedes Kind isst nach seinem Tempo und Geschmack, keine Ermahnungen oder Zurechtweisungen stören die Mahlzeiten.

Mittlerweile findet dieser Ablauf in allen Gruppen statt und auch der stärkste Widerstand ist jetzt verflogen.

Wir sind uns sicher, wer es einmal ausprobiert hat, wird nie mehr mit Druck ausüben und die Kinder in ihren Entscheidungen respektieren.