(Reckahn 2022)

Die Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen, die vor 5 Jahren entwickelt wurden, werden nach und nach bekannter. Immer wieder erreichen uns persönliche Texte von unterschiedlichen Personen aus unterschiedlichen Orten, in denen über erschütternde Erfahrungen berichtet wird. Dabei kommt auch zum Ausdruck, dass unzulässiges pädagogisches Beziehungshandeln durch Versäumnisse auf verschiedenen institutionellen Handlungsebenen begünstigt wird: sei es in alltäglichen Praktiken von pädagogischen Fachkräften, sei es durch Versäumnisse auf der Leitungs- und Trägerebene  

In diesem Blogbeitrag stellen wir eine Auswahl an problematischen pädagogischen Situationen zusammen, die uns seit Bekanntwerden der Reckahner Reflexionen in diversen anonymen Zuschriften erreicht haben. Die Zuschriften wurden redaktionell leicht bearbeitet. Alle Namen wurden anonymisiert.

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Sabbern“:

Die Kinder räumen auf, nehmen sich Sitzkissen und setzten sich in einen Kreis im Gruppenraum. Als alle Kinder da sind, sabbert Elli aus dem Mund und es tropft auf ihre Kleider und auf das Sitzkissen. Die Erzieherin schreit das Kind an: „Hör auf zu sabbern, das eckelt mich voll an“. Eine andere Erzieherin gibt dem Kind ein Taschentuch. Elli wischt sich während des gesamten Stuhlkreises an ihrer Hose und an dem Sitzkissen. Sie nimmt nicht aktiv am Stuhlkreis teil.

„Verstümmelter Igel“:

Ken schneidet den vorgemalten Igel aus braunem Papier aus. Er ist 5 Jahre alt und kommt im Herbst in die Schule. Schneiden ist nicht so sein Ding und die Spitzen des Igels sind schwierig. Die Fachkraft beschimpft ihn:“ Du bist ein Großer, streng dich an, du kannst das besser“! Der Ton wird immer lauter und Ken immer kleiner. Die Fachkraft sagt zum Abschluss:“ So dann bekommst du halt einen verstümmelten Igel mit nach Hause. Da wird sich deine Mama freuen“!

„Klogang“

Alle Kinder haben aufgeräumt uns sitzen an ihrem engen Gardarobenplatz und warten zum morgendlichen Klogang. Sie spielen mit einer Betreuerin Fingerspiele oder singen und werden von einer anderen Betreuerin durch Handauflegen zum Klogang abgeholt. Fast alle Kinder folgen dieser Aufforderung und lassen sich auch auf die Toilette setzen. Ein Kind sagt:“ Ich muss nicht, ich war vorher schon auf dem Klo“. Die Betreuerin antwortet: „Wir gehen alle auf die Toilette ohne Widerrede, bestimmt kommt noch was“. Auf der Toilette werden alle Kinder von der Betreuerin ausgezogen und auf die Toilette gesetzt. Alle wieder angezogen. Das Team findet das toll, es geht schnell und mit Kontrolle. Es muss kein Kind umgezogen werden. In den regelmäßigen Supervisionssitzungen ist das ein langes, wiederholt besprochenes Thema. Aber es kommt nicht zu Veränderungen – trotz vieler Vorschläge. Eine neue Kita-Leiterin ändert nichts, sie findet die Vorgehensweise gut und akzeptiert sie. Das passiert noch vor Corona. Die neue Leiterin findet diese Tradition dann noch besser wegen Corona.

Anonymer Brief an die Kindergartenleiterin von einer Familie

Liebe Frau Hofmann, meine beiden Kinder besuchen Ihre Einrichtung. Sie spielen oft Szenen aus dem Kindergartenalltag wieder bei uns zu Hause. Wir beobachten das jetzt schon eine Weile und wenden uns jetzt anonym an Sie, damit sie mit ihrem Team besprechen, dass Situationen mit Aussagen wie der folgenden von unseren Kindern nachgespielt werden: „Das wird jetzt gegessen! Ich will keine Ausrede mehr hören!“

Und die Kinder erzählen: „Frau Keil schreit immer rum und schaut uns böse an, egal was wir spielen. Nur Frau Keil macht das, die anderen sind lieb zu uns. Bei Frau Keil darf der Peter alles machen und auf ihrem Schoß sitzen, sonst kein Kind. Wenn der Erzieher Gernot nicht da ist, möchte Kind Quentin nicht in der Kita bleiben.“

Der anonyme Brief der Eltern gelangt an den Träger. Dieser teilt mit, da könne er nichts machen. Es gebe so wenig Fachkräfte, da könne man als Träger niemanden zur Rechenschaft ziehen und auch niemanden entlassen. Der Brief und die Situationen in der Kita bleiben unbearbeitet.

Mittagessen“

Eine Erzieherin hat Mittagessensdient. Sie prüft das Essen in der Küche auf Wärme und schöpft dann in der Küche allen Kindern ihre Teller mit allem, was es gibt, randvoll – große Portionen und den Salat in eine kleine Schale. Die Küchenzeile ist nicht sichtbar für die Kinder. Die Kinder haben keine Wahl der Speisen, zum Beispiel mit Soße oder ohne Soße, sie können selbst nichts nachschöpfen. Sie müssen immer fragen, wenn sie etwas möchten, aber der Teller muss zuerst leer sein. Kinder, die nichts essen, werden ermahnt endlich was zu essen – sonst gibt es nichts mehr. Dann gibt es einen Aufruf, dass alle Kinder wieder in ihren Gruppenraum gehen können. Das schmutzige Geschirr bleibt auf dem Tisch stehen und eine Erwachsene räumt alles ab und bringt das Geschirr zur Spülmaschine. Die Kinder helfen nicht, weil es sonst zu lange dauern und eine Sauerei entstehen würde. Das könnten 3- bis 6-jährige noch nicht. Während der Supervision wird ca. 10 Stunden lang darüber informiert und diskutiert, wie Kinder essen lernen und selbständig werden und dass die Erwachsenen dabei Vorbilder für die Kinder sein sollten. Wenn daraufhin die Leiterin anwesend ist, werden die Kinder besser beteiligt, mit verzogener Mine und Augenrollen der Teammitglieder. Sonst nicht. Der Träger fordert das Umsetzen der Vereinbarungen, die in der Supervision getroffen wurden, nicht ein, sonst könnten ja Mitarbeiter kündigen.

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