Zur Balance zwischen ethischen Ansprüchen und pädagogischem Handeln in konflikthaften Situationen

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(von Martina Hehn-Oldiges, Dezember 2024)

Dieser Beitrag gehört zur Festreihe, die wir Annedore Prengel zu Ihrem 80. Geburtstag widmen. Weitere Beiträge, die zu dieser Reihe gehören, finden Sie unter der Kategorie #FestreiheAnnedorePrengel

In pädagogischen Beziehungen können konflikthafte Situationen entstehen, wenn unser Bedürfnis nach einem störungsfreien Verlauf mit den Bedürfnissen der uns beruflich anvertrauten Kinder und Jugendlichen in Widerspruch gerät. Befinden wir uns dadurch unter emotionalem Druck, kann es sein, dass ergriffene Maßnahmen unserem grundlegenden ethischen Anspruch (z. B. im Sinne der Reckahner Reflexionen – Leitlinien zur Ethik pädagogischer Beziehungen) nicht gerecht werden. Annedore Prengel spricht von „Ambivalenzen“ und mit dem Verweis auf Winnicott dem Ziel „genügend gut“ zu handeln (Prengel 2019, 49 ff.). Sie regt zur Diskussion über sieben Prinzipien einer ethischen Pädagogik (siehe grauer Kasten) an, die auf berufliches Handeln bezogene Aussagen beinhalten, „die im Zwischenraum zwischen abstrakten philosophischen Begründungen und konkreten Handlungsanleitungen angesiedelt sind“ (Prengel 2020, 69). Die Diskussion wird in diesem Beitrag beispielhaft für die Prinzipien „Selbstsorge“ und „Fürsorgliche Gemeinschaft“ im Kontext konflikthafter Situationen aufgenommen. Beide richten den reflektierenden Blick auf unsere personalen Voraussetzungen, die grundlegend für die Umsetzung der weiteren fünf Prinzipien sind.

Was ist mit dem Prinzip der Selbstsorge gemeint?

„Für ihr persönliches Wohlbefinden, ihre fachliche Kompetenz und ihre ethische Orientierung tragen pädagogisch verantwortliche Menschen Sorge“ (Prengel 2020, 114).

  • Ethische Orientierung: Wir tragen Verantwortung dafür, dass sich Kinder und Jugendliche zugehörig, anerkannt oder sicher fühlen und dass wir ihre Nöte und Bedürfnisse erkennen und berücksichtigen.
  • Persönliches Wohlbefinden: Wir tragen Verantwortung dafür, in welcher Weise wir unser seelisches Gleichgewicht wieder herstellen, wenn uns Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen an unsere Grenzen bringen.
  • Fachliche Kompetenz: Wir tragen Verantwortung dafür, unser Fachwissen zu erweitern, um Verhaltensweisen als Notsignale zu verstehen und präventive Maßnahmen kennen und anwenden zu lernen.

Was ist unter dem Prinzip der Fürsorglichen Gemeinschaft zu verstehen?

Kindertageseinrichtungen und Schulen werden als Bildungshäuser im Sinne der Caring Communitiy konzipiert“ (Prengel 2020, 114).
In pädagogischen Einrichtungen sind Kinder, Jugendliche, Erwachsene in unterschiedlichen Rollen in einem vielseitigen Beziehungskosmos vereint. Um Herausforderungen bewältigen zu können, sind verlässliche Strukturen zum Austausch notwendig, in denen Kreisläufe von anerkennender Fürsorge und individueller Unterstützung für alle kultiviert werden (vgl. Prengel 2020, 71 f.).

Beide Prinzipien sind unmittelbar miteinander verbunden:
„Selbstsorge ist einerseits ein individualethisches Prinzip, denn jede einzelne Person ist einerseits verantwortlich dafür, für sich selbst Sorge zu tragen. Aber Selbstsorge ist andererseits auch ein sozialethisches Prinzip, weil sie am besten in Wechselseitigkeit gelingt“ (Prengel 2022, 63).

Selbstsorge in konflikthaften Situationen

Informelle Befragungen zeigen, dass Lehr- und pädagogische Fachkräfte in Konfliktsituationen stark belastende Emotionen wie Ärger, Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit usw. empfinden (Sammlung s. Abbildung 1). Trotz des Wissens um die schädliche Wirkung von sanktionierenden Maßnahmen, wie z.B. Beschämung oder Ausgrenzung, werden diese unter Druck als gerechtfertigt begründet. „Ich will nicht schimpfen, aber J. fordert es ja heraus!“oder „Selbst schuld, wenn J. nicht am Ausflug teilnehmen darf!“ Herausforderndes Verhalten wird so auf dessen „störende“ Wirkung reduziert und unser Gegenüber für unser persönliches Dilemma verantwortlich gemacht. Wir geraten in Gefahr, ungewollt zur Eskalation der Situation beizutragen und mit unseren Maßnahmen zu scheitern.

Wiederherstellung unseres emotionalen Gleichgewichts

Das folgende Beispiel (Tabelle 2) zeigt, wie sich unsere persönliche Deutung (und damit auch eine mögliche Fehldeutung) unmittelbar auf unser Wohlbefinden und auf die Beziehungsdynamik auswirken kann. Professionelles Handeln basiert auf der Reflexion folgender Fragen:

  • Durch welches Verhalten fühle ich mich herausgefordert?
  • Wie deute ich es?
  • Welche Emotionen und Gedanken stellen sich bei mir ein und wie handele ich unter diesem Druck?
Tabelle 2: Deutungen und ihre Logik (vgl. Hehn-Oldiges 2023, 27)

Für die Regulierung unserer Emotionen und der daraus folgenden handlungsleitenden Impulse tragen wir die Verantwortung (Hehn-Oldiges 2023b, 72 – 76), um pädagogische Kunstfehler und „Kreisläufe der Aggression“ (Prengel 2022, 73) zu vermeiden. Methoden zur Selbstsorge und Selbstreflexion finden sich z. B. in Wahl (2013, 69 ff.).

Erweiterung der Fachkompetenz – „Gute Gründe“ für herausforderndes Verhalten

Um Fehldeutungen zu vermeiden, benötigen wir Fachwissen, um die subjektive Logik hinter dem gezeigten Verhalten zu verstehen. Deutungen wie „J. will uns nur provozieren!“ führen dazu, dass wir das Verhalten nicht als Ausdruck eines nachvollziehbaren Bedürfnisses, seelischer Not oder als Bewältigungsstrategie (Hehn-Oldiges 2024, 119 – 131) erkennen. Kinder und Jugendliche werden uns in sensiblen Phasen ihrer seelischen Entwicklung anvertraut. „Wie wir ihr Tun deuten und was wir ihnen im Hinblick auf ihre Persönlichkeit zurückmelden, wirkt sich auf die Entwicklung ihres Selbstkonzepts aus“ (Haug-Schnabel/Bensel 2017, 74). Als professionelle Bezugspersonen sind wir „verantwortlich für Lernen und Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler, während dies umgekehrt nicht gilt“ (Fischer/Richey 2021, 38).
Betrachten wir herausforderndes Verhalten lediglich unter dem Aspekt der „Störung“ oder „Regelverletzung“ folgen Ermahnungen und „Sanktionen“ als scheinbar abgemilderte Version von Strafen (Richter 2020, 38). Ampel- und Ermahnungssysteme sowie Maßnahmenkataloge, die in „entpersonalisierter“ Form angewendet werden, berücksichtigen weder die Situation, die subjektive Logik des Verhaltens noch die Deutungsproblematik (Hehn-Oldiges/Ostermann 2020, 4 ff.). Um konstruktive Ausdrucksformen anstelle herausfordernder Verhaltensweisen zu entwickeln, benötigen Kinder und Jugendliche haltgebende Interaktionen (z. B. Klarheit in den Erwartungen, Anregungen zur Selbstbemächtigung (Meyer, Tretter, Englisch 2020 Online-Material S. 49 – 59) und professionelle Konfliktgespräche).

Erweiterung der Fachkompetenz: Ethisch orientierte pädagogische Konzepte

Die häufig gestellte Frage in Fortbildungsveranstaltungen „Was soll ich denn tun, wenn …?“ zeigt, dass wirksame pädagogische Konzepte, die besonders in Konflikten auf einer Kultur der Anerkennung und Wertschätzung basieren, wenig bekannt sind. Dazu gehören z. B. die Entwicklungspädagogik ETEP (Bergsson/Luckfiel 2007; Erich 2018), die Entwicklungsfreundliche Beziehung EfB® (Senckel/Luxen 2017) oder STEP – Systematisches Training für Eltern und Pädagogen® (Dinkmeyer et al. 2011; 2018) (Informationen dazu s. im Blog Verwandte Ansätze). Anstelle von Ermahnungen und Sanktionen werden konkrete Zugänge angeboten, die eine ermutigende und von Zuversicht geprägte Gestaltung pädagogischer Situationen ermöglichen. Das Wohlbefinden aller Beteiligten wird dadurch gestärkt.

Fürsorgliche Gemeinschaft – multiperspektivische Herangehensweise

Auf der Grundlage einer ethischen Selbstverpflichtung (Maywald 2019, 135) wird ein achtsamer und wertschätzender Umgang zwischen allen Beteiligten angestrebt. Regelmäßig stattfindende Fachgespräche führen dazu, Fachwissen zu erweitern, Methoden zur Selbstsorge und Selbstreflexion zu erproben und schwierige Situationen zu analysieren. Im Austausch mit anderen können wir beziehungsförderliche alternative Zugänge (z. B. Präventive und interventive Maßnahmen) finden (Sozialethik) (Hehn-Oldiges 2024, 31 – 35). „Wenn hausintern institutionelle Strukturen geschaffen werden, die eine verbindliche Kooperation zulassen, ermöglicht der Austausch Entlastung und mehr Wohlbefinden der einzelnen professionellen Akteure im Sinne der Individualethik“ (Prengel 2020, 79). Im Ansatz „Wege aus Verhaltensfallen“ wird ein in der Praxis entwickelter Leitfaden angeboten, um gemeinsam konflikthafte Situationen in ihrer Komplexität zu analysieren (Hehn-Oldiges 2024, 75-85 und 172-180). Die folgende Abbildung zeigt die Bausteine des Leitfadens.

Im folgenden Beispiel (Tabelle 3) wird der Blick auf die konflikthafte Situation gerichtet, in der das Verhalten gezeigt wird. Durch eine mögliche kollegiale Hypothesensammlung (Hehn-Oldiges 2024, 77ff.) oder ein professionell geführtes Konfliktgespräch (Erich 2018, 120ff.) können wir die Subjektlogik erkennen und haltgebende unterstützende Maßnahmen anpassen.

Tabelle 3: Beispiel Kollegiale Hypothesensammlung – Vermutungen zum subjektiven Sinn (vgl. Hehn-Oldiges 2023a, 30)

Ausblick

Mit diesem Beitrag wird Annedore Prengels unermüdlicher Einsatz für das Gelingen pädagogischer Beziehungen gewürdigt. Angewandte Ethische Pädagogik basiert auf der Reflexion persönlicher Ambivalenzen. Die Prinzipien der Selbstsorge und der Fürsorglichen Gemeinschaft bieten dazu eine grundlegende Orientierung, um die Diskussion der weiteren Prinzipien (Nicht-Schaden, Wohltun, entwicklungsangemessene Autonomie, Advokatorische Verantwortung und Gerechtigkeit) fortzuführen.

„Es ist möglich, ,genügend gut‘ pädagogisch zu handeln, auf jeden Fall ist es möglich, auch in schwierigen Situationen Schritte zum Besseren zu wagen“ (Prengel 2020, S. 67).

Weitere Fortbildungsmaterialien zum Ansatz „Wege aus Verhaltensfallen“ stehen über die Website verhaltensfallen.jimdosite.com auf einer digitalen Pinnwand zur Verfügung.

Autorin und Bezüge zu Annedore Prengel

Martina Hehn-Oldiges, Sonderpädagogin i. R., Schulleiterin a. D., Fortbildnerin und Fachautorin
Annedore Prengel lernte ich 2012 während eines Fachtages in Bremen kennen, zu dem wir beide als Referentinnen eingeladen worden waren. Im Gespräch über unsere Fortbildungsformate konnten wir übereinstimmende Grundgedanken zur Bedeutung pädagogischer Beziehungen entdecken und welche notwendige Unterstützung Lehr- und pädagogische Fachkräfte benötigen. Mit der Einladung Annedores, an der Entwicklung von „Leitlinien zur Ethik pädagogischer Beziehungen“ mitzuarbeiten, wurde ein intensiver fachlicher und persönlicher Austausch in Gang gesetzt. Mein besonderer Dank gilt Annedore für viele konstruktive Diskussionen und ihre wertschätzende und ermutigende Unterstützung.
Kontakt: Hehn-oldiges@em.uni-frankfurt.de

Literatur

Ethische Pädagogik – Pädagogische Beziehungen
Fischer, N./Richey, P. (2021): Pädagogische Beziehungen für nachhaltiges Lernen. Stuttgart: Kohlhammer.
Haug-Schnabel, G./Bensel, J. (2017): Grundlagen der Entwicklungspsychologie. 12. überarbeitete Auflage. Freiburg: Herder
Prengel, A. (2019): Pädagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Barbara Budrich.
Prengel, A. (2020): Ethische Pädagogik in Kita und Schule. Weinheim: Beltz.
Prengel, A. (2022): Schulen inklusiv gestalten. Eine Einführung in Gründe und Handlungsmöglichkeiten. Opladen: Barbara Budrich.
Reckahner Reflexionen zur Ethik pädagogischer Beziehungen (2021). Reckahn: Rochow-Akademie

Schwierige Situationen analysieren und bewältigen
Becker, U. (2023): Auffälliges Verhalten in der Schule. Pädagogisches Verstehen und Handeln. Opladen: Barbara Budrich
Hehn-Oldiges, M. (2023a): Unterrichtsstörungen aus verschiedenen Perspektiven betrachten. In: PÄDAGOGIK, H 1, 26-31 mit Online-Materialien auf der Verlagsseite
Hehn-Oldiges, M. (2023b): Sozio-Emotionalität. Analytische Perspektiven auf erzieherische Maßnahmen im Kontext persönlicher Deutungen und emotionaler Belastungen. In: S. Richter (Hrsg.): Unterrichtsstörungen und Konflikte im schulischen Feld. Deutungen, Perspektiven und Lösungen in einem unwegsamen Gelände. Opladen: Barbara Budrich, 71-84.
Hehn-Oldiges, M. (2024): Wege aus Verhaltensfallen – Pädagogisches Handeln in schwierigen Situationen. 2. überarbeitete und aktualisierte Auflage. Weinheim: Beltz.
Wahl, D. (2013): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln. 3. Auflage. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Ethisch orientierte Konzepte
Maywald, J. (2019): Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg: Herder
Senckel, B./Luxen, U. (2017): Der entwicklungsfreundliche Blick. Entwicklungschancen bei normal begabten Kindern und Menschen mit Intelligenzminderung. Weinheim: Beltz.
Bergsson, M./Luckfiel, H. (2007): Umgang mit „schwierigen“ Kindern, 7. Auflage. Berlin: Cornelsen.
Erich, R. (2018): Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten gezielt fördern – Das Programm der Entwicklungstherapie/Entwicklungspädagogik. Stuttgart: Raabe.
Dinkmeyer, D. Sr./McKay, G./Dinkmeyer D. Jr. (2011): STEP – Das Buch für Lehrer/innen – wertschätzend und professionell den Schulalltag gestalten. Weinheim: Beltz.
Dinkmeyer, D. Sr./McKay, G./ Dinkmeyer, J./Dinkmeyer, D. Jr. (2018): STEP – Das Buch für Erzieher/innen. 5. Auflage. Berlin: Cornelsen.

Disziplin – Ermahnungssysteme – Strafen
Hehn-Oldiges, M./Ostermann, B. (2020): Ampeln und andere Ermahnungssysteme – problematische Strategien zur Erziehung.
Richter, S. (2018): Pädagogische Strafen. Verhandlungen und Transformationen. Weinheim: Beltz Juventa.
Richter, S. (2020): Disziplinprobleme und Probleme des Disziplinierens. In: PÄDAGOGIK H.10, 38-41.