Ein Gespräch mit der Sonderpädagogin Ursula Jack über die Förderung von sozial-emotionalen Fähigkeiten der Schüler_innen. Sie war vierzig Jahre im Berliner Schuldienst und bietet seit rund zwanzig Jahren Fortbildungen für Schulen an. Im Rahmen des Gesprächs reden wir über das Programm „ETEP“.

Frage: Man hört häufiger, dass es immer mehr verhaltensauffällige Schüler_innen gibt?

Frau Jack: Wenn man sich die statistischen Zahlen im Fall von Berlin anguckt, haben kaum Veränderungen stattgefunden. Danach wäre Ihre Frage mit „Nein“ zu beantworten. Die Zahl der Schüler_innen, die von den Lehrkräften als „verhaltensauffällig“ beschrieben werden, geht aber in der Regel weit über die Zahl derer mit festgestelltem sonderpädagogischen immer mehr „verhaltensauffällige“ Schüler. Dieses Erleben kann vielerlei Gründe haben: (1) die zunehmende Heterogenität der Klassen und die damit einhergehenden Anforderungen unterschiedlichste Voraussetzungen und Bedürfnisse der Schüler_innen berücksichtigen zu müssen, (2) die in vielen Schulen unzureichende Personal- und Raumausstattung, um den Schüler_innen wirklich gerecht werden zu können, (3) das wachsende Bewusstsein für Traumatisierungen von Schüler_innen (4) die Lehrkräfte fühlen sich nicht hinreichend ausgebildet für die Vielfalt der Anforderungen.

Frage: Was versteckt sich hinter dem Programm „ETEP“?

Frau Jack: ETEP steht für Entwicklungstherapie/ Entwicklungspädagogik. Es ist ein Konzept, das in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Mary Wood in den USA entwickelt wurde. Ihr Ziel war es, ein pädagogisches Konzept zur Förderung sozial-emotionaler Fähigkeiten von Schüler_innen zu schaffen. Sie hat zunächst die entwicklungspsychologischen Stufenmodelle von Piaget, Kohlberg, Bandura, Eriksson u.a. daraufhin überprüft, welche Aussagen sie in Bezug auf die Entwicklung sozial-emotionaler Fähigkeiten machen. Darauf aufbauend hat sie in einem eigenen Stufenmodell die Entwicklung der sozial-emotionalen Fähigkeiten von der Geburt bis zum Alter von 16 Jahren in 5 Stufen beschrieben. Sie gliedert die Beschreibung der Stufen in vier Bereiche: Verhalten, Kommunikation, Sozialisation und Kognition.

Diese Beschreibung ist bereits eine große Hilfe für die Praxis. In der Fortbildung stellen wir fest, dass viele Lehrkräfte relativ wenig über die soziale-emotionale Entwicklung von Kindern wissen, dass dies aber hilft, Schüler_innen, die in ihrer Entwicklung auffällig sind, besser zu verstehen. Mary Wood hat aus diesem Stufenmodell ein Kompetenzraster, man könnte auch sagen, ein Curriculum, entwickelt, indem sie für jeden der vier Bereiche aufeinander aufbauende Fähigkeiten beschrieben hat, die die Kinder und Jugendlichen im Laufe der Zeit erlernen. So können wir bei  einzelnen  Schüler_innen oder der gesamten Lerngruppe genau schauen, auf welchem Entwicklungsstand sie sich befinden, welche Fähigkeiten sie schon beherrschen und welche sie als nächstes erfolgreich bewältigen können, um ihre emotional-sozialen Fähigkeiten weiter zu entwickeln.

Frage: Was gefällt Ihnen besonders gut an ETEP?

Frau Jack: Besonders wichtig ist mir, dass es sich bei ETEP um ein Konzept handelt, das großen Wert auf die pädagogische Haltung legt und dabei Handlungsebenen anbietet, die es den Lehrkräften ermöglichen diese Haltung bei sich selbst weiter zu entwickeln. ETEP ist keine Technik, die ich nach einem bestimmten Rezept anwenden kann, um damit die „Verhaltensauffälligkeiten in den Griff“ zu bekommen.

Ich möchte vier Aspekte dieser entwicklungspädagogischen Haltung ansprechen:

Zunächst ist da der Blick auf die Stärken der Kinder und Jugendlichen. Das ist nicht so einfach, wie es sich sagt, insbesondere bei Schüler_innen, die sich lautstark, regelüberschreitend, aggressiv ausagierend oder auch extrem regressiv verhalten. Wenn ich Schüler_innen mit dem ELDiB [Anmerkung: Entwicklungspädagogischer Lernziel-Diagnosebogen,  identisch mit dem o.g. Kompetenzraster] einschätzen will, bin ich jedoch gezwungen, auf das zu schauen, was sie im verhaltensbezogenen, kommunikativen, sozialen, kognitiven Bereich an konstruktiven Fähigkeiten schon gelernt haben und zeigen.

Daraus kann ich ableiten — natürlich mit den Kindern und Jugendlichen zusammen –, welche Fähigkeiten, sie als nächstes erfolgreich erwerben können. Ich folge der Entwicklungslogik, indem ich sehe, was sie schon können und frage dann: Was kann als nächstes gelingen, was ist noch zu „schwer“, was trauen sich die Kinder und Jugendlichen zu? Das heißt: Ich sorge dafür, dass die Schüler_innen nicht überfordert sind, jedoch Anreize bekommen neue Entwicklungsschritte zu wagen.

Auch bei der nächsten Frage, wie ich die Kinder Jugendlichen möglichst gut dabei unterstützen kann, ihre Entwicklungsziele zu erreichen, spielt die Haltung eine entscheidende Rolle. Es ist ein altes Erfahrungswissen und die Hirnforscher haben es inzwischen vielfältig belegt: Nachhaltiges Lernen braucht das Erleben von Freude und Erfolg. Die Aufgabe der Lehrkräfte ist es, dafür einen Rahmen zu schaffen. Die Beachtung der Entwicklungslogik und der Blick auf die Stärken tragen dazu einen Teil bei.

Zu diesem Rahmen, der Freude und Erfolg sichert, gehört auch die Auswahl von Lerninhalten, die Vorerfahrungen, Interessen und (emotionale) Bedürfnisse der Schüler_innen berücksichtigen sollte. Lehrkräfte sind zwar an Vorgaben der Rahmenlehrpläne gebunden, sie haben jedoch die Freiheit, die Bearbeitung von Themen so zu fokussieren, dass sie relevante Erfahrungen für die Schüler_innen ermöglichen. Relevant sind Erfahrungen, wenn sie an Vorerfahrungen anknüpfen, wenn sie Emotionen ansprechen und wenn sie über die aktuelle Lernsituation/Unterrichtsstunde hinaus von Bedeutung sind.

Zusammenfassend kann ich zu dieser Frage sagen, dass die Gestaltung der pädagogischen Beziehungen essentiell für die entwicklungspädagogische Arbeit ist und hier sehe ich eine große Übereinstimmung mit den Reckahner Reflexionen.

Frage: Erhalten die Lehrkräfte denn konkrete Vorschläge, wie sie die Schüler_innen dabei unterstützen können, die nächste Kompetenzstufe zu erreichen?

Frau Jack: Ja, ETEP beschreibt auf mehreren Handlungsebenen vielfältige Verfahrensweisen, die in der Fortbildung praxisnah erarbeitet werden. Darüber hinaus werden die Teilnehmer_innen bei der Umsetzung in ihren Klassen/Lerngruppen durch Hospitationen und Beratungen begleitet.

Auf einige Verfahrensweisen habe ich oben schon hingewiesen, andere möchte ich noch ergänzen und in ihrem Zusammenhang erläutern: Zunächst ging es darum, mit dem dem ELDiB einzuschätzen, auf welchem Entwicklungsstand sich die Schüler_innen aktuell befinden. Zugleich geht es darum zu verstehen, welcher „innere Motor“ die Schüler_innen veranlasst sich so zu verhalten, wie sie sich verhalten. Grundsätzlich erkennen wir an, dass jedes Verhalten – aus der subjektiven Sicht – einen Sinn macht. Wir entschlüsseln z.B. Entwicklungsängste, Abwehrmechanismen, Selbstwirksamkeitserwartungen und im emotionalen Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen, um diese Antriebskräfte zu verstehen.

In Absprache mit den Schüler_innen werden Ziele vereinbart, auf die in der nächsten Zeit hingearbeitet wird. Auf der Basis der oben beschriebenen Beobachtungen und Einschätzungen haben wir ein ganzes Bündel an Möglichkeiten, die Schüler_innen im Unterricht beim Erreichen ihrer Ziele zu unterstützen. Zusammengefasst kann man sagen, dass es um der Entwicklungsstufe angemessene Lernarrangements geht, bei denen die Schüler_innen an ihren Zielen arbeiten können und dabei Freude und Erfolg erleben. Schon bei der Planung ist die am Anfang beschriebene pädagogische Haltung von zentraler Bedeutung.

In der täglichen pädagogischen Praxis spielen darüber hinaus „Interventionsstrategien“, mit denen wir die Schüler_innen unterstützen, ihre Ziele zu erreichen, eine bedeutende Rolle. Einige möchte ich beispielhaft nennen:

  • das positive Feedback für Erfolge und Teilerfolge
  • das Erinnern an Stärken und Erfolge, um zu ermutigen
  • das Umlenken oder Umgestalten von Lernsituationen, um einen erfolgreichen Ausgang zu sichern
  • durch Spiegeln und Interpretieren unbedingten Respekt vor den Gefühlen zeigen und – abhängig von der Entwicklungsstufe – alternative Verhaltensweisen anbahnen

Welche Interventionsstrategien ich wann wähle, hängt von der Situation und wiederum wesentlich von der Entwicklungsstufe und den emotionalen Bedürfnissen der Schüler_innen ab. Die Interventionen sind proaktiv und unterstützend, nicht strafend, beschämend o.ä. Dies gilt auch für Strategien, die notwendig werden, wenn Schüler_innen Verhaltensweisen zeigen, die unterbrochen werden müssen, weil sie die Gruppensituation sprengen, selbst- oder fremdgefährdend sind. Das sind z.B. das Time-out oder die Konfrontation. Auch hier gilt der absolute Respekt vor den Gefühlen der Schüler_innen.

Frage: Welche Rückmeldungen erhalten Sie, wenn Sie Fortbildungen zu ETEP machen?

Frau Jack: Am Anfang gibt es häufig Befürchtungen: „Wann soll ich denn das alles machen?“ Es ist eine Fortbildung, die 60 Stunden umfasst und zusätzlich gibt es Hospitationen und Beratungen bei der Umsetzung in die eigene Praxis. Man braucht also wirklich Zeit dafür. Deshalb erstreckt sich die Fortbildung über mindestens ein Jahr, so dass die Teilnehmer_innen sich Schritt für Schritt und mit Begleitung in die vielfältigen Aspekte der Entwicklungspädagogik einarbeiten können.

Außerdem ist es doch so, dass viele Lehrkräfte sowieso sehr viel Zeit damit verbringen, sich mit Schüler_innen zu befassen, die auffällig sind, mit denen sie Schwierigkeiten haben; sie probieren viel aus und das Fazit ist oft: „Nichts hilft, für kurze Zeit gibt‘s mal Verbesserungen und dann …“

Daher ist die Nachfrage nach den Fortbildungen auch sehr groß und die Rückmeldungen sind überwiegend positiv. Die Teilnehmer_innen berichten, dass …

… sie sich psychisch entlastet fühlen, weil sie die Verhaltensweisen der Schüler_innen besser verstehen, was die pädagogische Beziehung stärkt

… sie Lernfortschritte wahrnehmen, weil sich ihre Aufmerksamkeit zunehmend mehr auf die Fähigkeiten der Schüler_innen richtet und weniger darauf, die Klasse „im Griff zu haben“

… sie sich sicherer fühlen im Umgang mit auffälligen Schüler_innen und schwierigen Situationen

… sie pädagogische Prozesse klarer ziel- und entwicklungsorientiert steuern können

Neben der oben angesprochenen Frage nach der „Zeit“ sprechen die Fortbildungsteilnehmer_innen häufig die schulischen Rahmenbedingungen an, wie z.B. die strukturell verankerte Teamarbeit oder die Unterstützung der Schulleitung, um die Nachhaltigkeit zu sichern. Diesen Herausforderungen trägt die Fortbildung dadurch Rechnung, dass an allen Schulen, die an einer ETEP-Fortbildung teilnehmen, für das ganze Kollegium ein Studientag zur ETEP-Arbeit stattfindet und ein Workshop für Schulleitungen und ETEP-Pädagog_innen zusammen.

Weiterhin gibt es regelmäßige Netzwerktreffen nach Abschluss der Fortbildung. Dieses  Angebot wird von vielen ETEP-Pädagog_innen gerne angenommen, um Erfahrungen auszutauschen und ausgewählte entwicklungspädagogische Aspekte aufzufrischen und zu vertiefen.

Frage: Wer nimmt an den Fortbildungen teil?

Frau Jack: An den Fortbildungen können Lehrkräfte, Erzieher_innen, Sozial-pädagog_innen u.a. pädagogische Mitarbeiter_innen aus allen Schulstufen und Schulformen teilnehmen. Vorausgesetzt wird die Teilnahme als Team von mindestens zwei Personen.

Frage: Was würden Sie an dem ETEP-Ansatz kritisieren?

Frau Jack: Mir ist bewusst, dass Stufenmodelle auch in Frage gestellt werden – sie seien zu absolut, nicht wirklich nachweisbar.  Für mich ist das Stufenmodell von Mary Wood ein sehr hilfreiches Bindeglied zwischen Theorie und Praxis.  Es unterstützt mich, die pädagogogischen Herausforderungen in der Entwicklung sozial-emotionaler Fähigkeiten anzugehen und es erschließt sich mir ganz praktisch durch die Beschreibung der Entwicklungsstufen und den ELDiB.

Fotoquelle: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Zitierhinweis: Jack, Ursula (2019): Wie kann man die sozial-emotionalen Fähigkeiten von Kinder und Jugendlichen fördern? Interview mit Ursula Jack. URL: https://paedagogische-beziehungen.eu/wie-kann-man-die-sozial-emotionalen-faehigkeiten-von-kinder-und-jugendlichen-foerdern/

Zum Weiterlesen:

BERGSSON, M./LUCKFIEL, H. (1998): Umgang mit “schwierigen” Kindern. Cornelsen-Scriptor (Reihe: Lehrerbücherei Grundschule)

ERICH, Regina (2008): Kinder mit Verhaltensschwierigkeiten gezielt fördern. Raabe-Verlag.

WOOD, Mary M.: QUIRK, Constance A.; SWINDLE, Faye L. Regina (2007): Teaching Responsible Behaviour. Developmental Therapy – Developmental Teaching for Troubled Children and Adolescents. Austin (Tx) Pro Ed.

Im Internet: www.etep.org